Sie könne den Blick von außen ja auch verstehen, sagt die Musikvermittlerin Andrea Hoever am Ende unseres Gesprächs. Für viele sei die Bodensee Philharmonie vermutlich so etwas wie für sie eine Firma, die sich vielleicht mit Robotik beschäftigt und von deren Arbeitsweisen und inneren Strukturen sie als Außenstehende nur eine vage Vorstellung hat. Und je größer Distanz und Unkenntnis – das betrifft ja nicht nur den Bereich Kultur – desto eher hält man Einschnitte für möglich.
Nun gehört Andrea Hoever nicht zu den Besitzstandswahrerinnen in der Philharmonie, also zu denjenigen, die meinen, alles müsse unbedingt so bleiben, wie es schon immer war. Also mit Orchesterkonzerten und Kammerkonzerten, mit Filmmusik für die Jugend und für die Kleinen „Peter und der Wolf“. Ganz im Gegenteil ist Andrea Hoever dazu angetreten, Antworten zu finden auf die Frage nach dem Orchester der Zukunft. Und da geht es ganz zentral auch um die Auflösung der angesprochenen Distanz, um das Verhältnis zwischen Orchester und Bürgern.
„Wie können Orchester und Stadtgesellschaft enger zusammenwachsen? Wie schaffen wir es, das Orchester in der Stadt präsenter zu machen?“ Das sind die Leitfragen hinter den Formaten, die Hoever entwickelt. Das Projekt nennt sich „Zukunftsmusik!“, wird mit Geldern vom Bund unterstützt und ermöglicht es der Bodensee Philharmonie, neue Formate zu entwickeln und Experimentier- und Begegnungsräume zu schaffen.
Die Frage beschäftigt die komplette Orchesterlandschaft, nicht allein die Bodensee Philharmonie. Der klassischen Musik haftet trotz aller Vermittlungsbemühungen landauf landab noch immer das Vorurteil an, vor allem etwas für ältere Menschen des so genannten Bildungsbürgertums zu sein – für eine spezielle Zielgruppe also. In größeren Städten wie Berlin, Hamburg, München oder Stuttgart mag die Situation nochmal etwas anders sein. In Konstanz hingegen stellen neuerdings einige Stimmen aus dem Gemeinderat die Existenz der Bodensee Philharmonie ganz grundsätzlich in Frage.
Modellcharakter für deutsche Orchesterlandschaft
Dass die Fördermittel aus dem Topf „Exzellente Orchesterlandschaft“ nun ausgerechnet in der höchstmöglichen Marge nach Konstanz fließen, hat allerdings nichts mit einer etwaigen Rettung durch den Bund zu tun. Ganz im Gegenteil. Andrea Hoever möchte mit dem Konstanzer Orchester vielmehr ein Vorzeigeprojekt entwickeln, das Modellcharakter für die gesamte Orchesterlandschaft hat. Und die Bodensee Philharmonie hält sie deswegen so geeignet dafür, weil sie bei den Musikern und Musikerinnen eine Offenheit vorgefunden hat, die sie nach eigenem Bekunden als Musikvermittlerin bei anderen Orchestern nicht gesehen hat.

Als sie vor etwa eineinhalb Jahren nach Konstanz zur Bodensee Philharmonie kam, war sie überrascht von der Fülle an Ideen für neue Formate und Inhalte, die aus dem Orchester an sie herangetragen wurden. Ein Traum für eine Musikvermittlerin also – während sie an ihrer alten Wirkungsstätte in Dortmund häufig das Gefühl hatte, mit ihren kreativen Ideen ein Störfaktor zu sein.
Das mag zunächst wie Zweckoptimismus klingen, doch tatsächlich steckt im Zuschnitt der Bodensee Philharmonie auch ein Potenzial, das nicht überall gleichermaßen gegeben ist. Prinzipiell sind Orchester große und damit auch schwerfällige Institutionen. Veränderungen kommen nur schwer in Gang.
Die Bodensee Philharmonie hingegen ist als B-Orchester an der unteren Grenze zum C-Orchester (die Klassifizierung in A-, B- und C-Orchester richtet sich nach der Zahl der Planstellen, wobei auch die Vergütung Abstufungen unterliegt) eher schlank aufgestellt. Auch hat sie keine Verpflichtungen wie etwa ein Theaterorchester in einem Dreispartenhaus, das zum großen Teil durch Opernaufführungen gebunden ist. Die Bodensee Philharmonie ist da von vornherein freier und kann über ihr Tun flexibler bestimmen – und daher auch Neues ausprobieren.
Auf dem Wertstoffhof, im Riesenrad
„Dass sich die Musiker hier so stark einbringen, hängt auch damit zusammen, dass diese Spardebatte immer wieder aufploppt und man immer wieder zeigen muss, wer man ist und was man tut“, hat Hoever beobachtet. Tatsächlich hatte ja auch Intendant Beat Fehlmann immer wieder neue Formate entwickelt. Und ähnlich geht es nun weiter.
Es gab ein Percussion-Konzert mit Müll auf dem Wertstoffhof, in der kommenden Themenwoche „Vielfalt“ ab Samstag wird das Riesenrad auf Klein Venedig zur Begegnungsstätte, im Kula stellen sich Musiker aus dem Orchester mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund vor, das kommende philharmonische Konzert integriert einen Alphorn-Solisten, im Sommer sollen Musiker in einem Freibad-Konzert gemeinsam mit dem Publikum ins Wasser steigen und im Stromeyer-Turm wird es speziell um und für Frauen gehen.
Noch allerdings haben all diese Aktionen den Charakter von Sonderveranstaltungen. Sie gehören nicht zum Kerngeschäft des Orchesters, das sich zu einem guten Teil über die philharmonischen Konzerte definiert. Vermutlich deswegen hält sich in manchen Köpfen weiterhin die Vorstellung, das Angebot der Bodensee Philharmonie sei nur etwas für ältere, betuchte Menschen.
„Wir sind jetzt dabei zu schauen: Wo müssen wir unsere inneren Strukturen anpassen, damit solche Projekte umsetzbar sind?“, erklärt Hoever. Denn was zur Zeit aufgrund von Fördergeldern möglich ist, soll ja in Zukunft zum normalen Angebot gehören. „Meine ideale Welt wäre, dass sich ein Orchester selbst vermittelt. Dass es sich Formate überlegt, um Menschen zu erreichen und es diese dann selbst durchführt. Kurzum, dass es meine Position als Musikvermittlerin gar nicht mehr braucht.“
Problem Tarifvertrag
Bis dahin ist es noch ein Stück des Weges – allein schon deswegen, weil die Tarifverträge für Orchester innovative Formate im Grunde nicht vorsehen, bei denen Musiker mehr tun, als die Stücke zu spielen, die man ihnen auf den Notenständer setzt. Was darüber hinaus in Eigeninitiative passiert, findet in der Freizeit statt und bleibt damit unbezahlt. Ein neuer Haustarifvertrag, wie die Bodensee Philharmonie ihn derzeit erarbeitet, müsste solche Initiativen also zu einem regulären Bestandteil machen und müsste veränderte Arbeitsstrukturen berücksichtigen.
Dass es mit dem Haustarifvertrag nicht rasch genug voran geht, auch diese Kritik steht seitens des Gemeinderats im Raum. Andrea Hoever hingegen verweist auf die Erfahrungen, die das Orchester mit den Exzellenzwochen seit vergangenem Herbst gemacht hat. „Wenn wir den Haustarifvertrag vor einem Jahr erarbeitet hätten, hätten wir viele Erfahrungen, die wir jetzt gesammelt haben, nicht einbringen können.“ Und, so fügt sie noch hinzu: „Das Potenzial, das es hier gibt, und was wir gerade erschließen, kann so wegweisend sein. Das jetzt zu stoppen, wäre so schade, weil die Bewegung so wichtig ist für die Zukunft der deutschen Orchesterlandschaft.“