Von Gustav Mahler ist das Wort überliefert, er habe „nie auch nur eine Note geschrieben, die nicht absolut wahr sei“. Wahrheit meint in diesem Fall Mahlers ureigenstes Erleben. Oder wie der Komponist selbst schrieb: „So sehr ist bei mir Schaffen und Erleben verknüpft, dass, wenn mir mein Dasein fortan ruhig wie ein Wiesenbach dahinflösse, ich – dünkt mich – nichts Rechtes mehr machen könnte.“
Mit anderen Worten: Mahler brauchte den Ausnahmezustand, um komponieren zu können. Und das Ergebnis ist wiederum eine Musik im Ausnahmezustand. So auch seine 5. Symphonie, die die Südwestdeutsche Philharmonie unter Leitung von Emmanuel Tjeknavorian zum einzigen Programmpunkt des 8. Philharmonischen Konzerts machte. Wie so oft bei Mahler fügen sich hier Widersprüche zu einem dennoch stimmigen Gesamtbild, bildet Heterogenes ein Ganzes.
Der großformatige 70-Minüter markiert auch für das Orchester einen Ausnahmezustand. Die Besetzung ist riesig, die Bühne im Konstanzer Konzil quillt förmlich über. Der Raum hält der Mahlerschen Musik eigentlich nicht stand. Immerhin, seit es eine behutsam eingesetzte elektroakustische Unterstützung gibt, lässt er sich vom Hörerlebnis her etwas vergrößern. Dennoch braucht das Ohr ein wenig, um sich an die akustischen Gegebenheiten zu gewöhnen, sobald das Orchester loslegt.
Großes Aufgebot
Und wie es loslegt. Nämlich völlig gegen die Erwartung mit einem einzigen Instrument, der Solo-Trompete. Man möchte nicht in der Haut von Maxime Faix stecken, der da inmitten des riesigen Orchesteraufgebots sitzt und doch ganz auf sich selbst gestellt die ersten Töne, ein fanfarenartiges Signal, in die Welt schicken muss, bevor das Orchester in die apotheotische Aufwärtsbewegung einsteigt. Dazu gehört Selbstvertrauen. Faix bringt es mit. Und auch wenn der Ausnahmezustand hier und im weiteren Verlauf der fünfsätzigen Symphonie immer mal seinen Tribut einfordert, wird dieser Mahler-Abend als ein Höhepunkt der Philharmonischen Konzerte in Erinnerung bleiben.
Insa Pijankas Liebeserklärung
Die nun ausgeschiedene Intendantin Insa Pijanka hat sich damit selbst, wenn auch unfreiwillig, ein Abschiedsgeschenk gemacht. Freilich war das bei der Programmierung der Saison noch nicht absehbar. „Liebeserklärung“ hat sie das Konzert übertitelt. Gemünzt ist das auf Gustavs Mahlers Verbindung mit der fast zwanzig Jahre jüngeren Alma Schindler, die er 1902 heiratete – in derselben Zeit, in der auch die 5. Symphonie entstand. Man darf den Titel aber auch als Liebeserklärung von Pijanka an die Musik Mahlers verstehen.
Und wie dem Programmheft des Abends zu entnehmen ist, gehört die Fünfte auch zu den Lieblingssymphonien des Dirigenten Emmanuel Tjeknavorian. Der blutjunge Musiker, der demnächst 28 Jahre alt wird, hat bereits mit etlichen Orchestern von Welt zusammengearbeitet – wenn auch überwiegend als Geigen-Solist. Er galt und gilt als Rising Star auf seinem Instrument, greift inzwischen aber auch gerne mal zum Taktstock. Die Südwestdeutsche Philharmonie hat er bereits vergangenes Jahr höchst erfolgreich dirigiert. Auch auf diesem Feld ist von dem Österreicher, der aus einer armenischen Musikerfamilie stammt, wohl noch einiges zu erwarten.
Erstaunlich, mit welcher Souveränität er auch diese 5. Symphonie gestaltet. Mahler wäre nicht Mahler, würde die anfängliche Apotheose nicht sofort wieder in sich zusammenfallen und in einen Trauermarsch münden. Tjeknavorian gibt ihm Raum. Auch das muss man sich trauen: Die langsamen Tempi auszukosten, besser: auszugestalten und zu den schnellen Teilen in einen größtmöglichen Kontrast zu setzen. So betont Tjeknavorian die Konturen dieser Musik, die beim ersten Hören auf manch einen vielleicht ein wenig formlos erscheinen mag.
Musik wie ein Verxierbild
Das ist sie natürlich nicht. Aber sie changiert und wechselt wie ein Vexierbild je nach Betrachtung ihre Gestalt. Man kann sie als klassische viersätzige Symphonie mit einer überdimensionierten Einleitung verstehen. Mahler selbst teilte die fünf Sätze in drei „Abteilungen“. Genauso kann man sie als Mahlers erste rein instrumentale Symphonie betrachten, man kann aber auch den typisch Mahlerschen Liedton in ihr entdecken.
Stets aber geht ein Riss durch diese Musik, und sie zerreißt auch dem Hörer schier das Herz. Tjeknavorian weiß vor allem die beiden ersten Sätze zu gestalten. Wie aus einer Wundertüte kommen immer wieder neue Details zum Vorschein. Die Streicher wirken samtig und weich, durch die Aufstellung mit den Bratschen rechts außen ergeben sich zudem reizvolle Dialogmomente. Das gilt für den vierten Satz, das berühmte Adagietto – vielleicht Mahlers schönste Musik überhaupt –, aber auch schon für das vorangehende Scherzo.
Echos der Alpenwelt
Dieser Satz steht für sich. Man könnte ihn als eine Art Hornkonzert betrachten, mit Andrew Hale, der die prominente Rolle des Solisten gut ausfüllt. Man kann in dem Scherzo aber auch das Alphorn und die Echos der Alpenwelt entdecken. Mahler liebte es, verschiedene musikalische Sphären nebeneinander zu stellen.
Gegen Ende, auch das soll nicht verschwiegen werden, lässt die Konzentration dann doch nach. Die Versprechen der beiden ersten Sätze lassen sich nicht 70 Minuten lang halten. Mahlers 5. Symphonie – sie bleibt ein Ausnahmezustand, an dem das Orchester jedoch wachsen kann wie an kaum einer anderen Musik.
Weitere Aufführungen: 28. März, 19 Uhr, Milchwerk Radolfzell; 29. März, 19.30 Uhr, Konstanzer Konzil. Tickets: http://www.philharmonie-konstanz.de