Frau Autzen, in Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum„ ruft die Protagonistin aus: „Was habe ich denn verbrochen?“ Sie wollen am Theater Konstanz eine Bühnenfassung der Erzählung zeigen – „Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“. Doch Corona hat bislang etwas dagegen. Denken Sie auch manchmal: Was habe ich eigentlich verbrochen?

Autzen: Nein, denn es trifft ja nicht nur mich allein. Meinem Kollegen Matthias Kaschig zum Beispiel, der zurzeit in Konstanz „Dosenfleisch“ inszeniert, ist auch schon zweimal kurz vor der Premiere ein Corona-Lockdown dazwischen gekommen. Stücke von anderen Kollegen oder Kolleginnen können gar nicht mehr gespielt werden. Dagegen bin ich mit meinen beiden Erlebnissen noch gut dran.

Ihnen ist das auch schon einmal passiert?

Autzen: Im März, zu Beginn der Pandemie. Auch damals sollte die Premiere in Hannover an einem Freitag dem Dreizehnten stattfinden – wie jetzt im November. Ich fuhr direkt von der Probe nach Hause und blieb dort für volle fünf Monate. Deshalb war ich diesmal so froh, dass wir wenigstens weiter proben konnten. Dann fällt man nicht in so ein leeres Loch.

Herr Haase, Sie sind festes Ensemblemitglied und damit sozial abgesichert. Ist der Lockdown also nur halb so schlimm?

Haase: Wer fest engagiert ist, hat jedenfalls sehr viel Glück in dieser Situation. Vielen meiner Kollegen ergeht es deutlich schlechter. Und was das Künstlerische betrifft: Für uns ist klar, dass wir mit unserer Produktion irgendwann herauskommen werden. Der Lockdown hat uns nur aufgehalten, nicht gestoppt.

Autzen: Am eigentlichen Premierentermin haben wir unsere erste Hauptprobe abgehalten. Sobald die Theater wieder öffnen können, holen wir die weiteren Hauptproben und die Generalprobe nach. Zu wissen, dass wir das Stück in jedem Fall zeigen werden, war für die Probenarbeit ganz wichtig: So zählte jeder Tag, schon allein, weil ein Infektionsfall uns jederzeit zum Abbruch hätte zwingen können. Dadurch fühlte es sich fast so an, als arbeiteten wir auf eine Premiere hin. Dabei wussten wir ja, dass es dazu erst mal nicht kommt.

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Besteht denn nicht die Gefahr, dass über die Zwangspause wichtige Eindrücke im Gedächtnis verblassen?

Autzen: Genau dafür war es ja gut, dass wir bis zur ersten Hauptprobe gekommen sind, aber auch nicht weiter. Wir werden noch eine Szene umändern, das Ende ist auch nicht fertig: Da bleibt man emotional und geistig dran.

Nun belastet nicht nur die ungewisse Situation um den Premierentermin die Arbeit, sondern auch die Notwendigkeit, auf Hygienevorschriften achten zu müssen.

Autzen: Wir kommen alle mit Maske zur Probe, desinfizieren uns ständig die Hände, halten Abstand und müssen jede Stunde durchlüften. Für mich als Raucherin ist das zwar okay, aber es behindert natürlich den Probenprozess enorm. Wenn Sie gerade mitten im Stoff sind, und es heißt es plötzlich: „Wir müssen durchlüften!“ Da geht die ganze Konzentration flöten.

Auf der Bühne sind Berührungen tabu.

Autzen: Ich habe mich am Anfang unserer Arbeit tatsächlich gewundert, warum es mir so schwer fiel, zum Kern der Erzählung vorzudringen. Dann wurde mir schnell das Problem klar: Das Stück handelt von Übergriffen. Da steckt die körperliche Nähe ja schon im Wort. Zwar geht es bei Böll auch um die Gewalt von Sprache. Trotzdem ist es natürlich schwierig, wenn Sie die körperliche Dimension dieser Übergriffigkeit so gar nicht zeigen dürfen..

Wie sieht die Lösung aus?

Haase: Indem man nach Alternativen sucht, und zwar in einem Bereich, in dem man noch nie war. Für mich war das eine völlig neue Fragestellung: Wie kann ich meinem Gegenüber etwas zu verstehen geben, ohne ihm nahe zu kommen? Früher habe ich den anderen einfach von der Bühne geschubst, geküsst, an mich herangezogen oder in den Schwitzkasten genommen. Das alles fällt jetzt aus.

Sondern?

Haase: Zum Beispiel gibt es eine Situation, in der drei Personen eine vierte von der Bühne drängen. Normalerweise würden wir sie einfach packen und wegschubsen – geht gar nicht! Also bauen wir einen so hohen atmosphärischen Druck auf, dass der Abgang glaubhaft wirkt. Und diese Herausforderung begegnet Ihnen als Schauspieler in so einem Stück nicht nur einmal, sondern ständig.

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Entwickeln Sie dabei neue Techniken, die später noch zu gebrauchen sind?

Haase: Jedenfalls sammeln wir zurzeit besondere Erfahrungen. Ob diese für spätere Zeiten helfen? Schwer zu sagen. Es ist einfach nicht der natürliche Weg des Umgangs auf der Bühne.

Autzen: Ich finde, dass wir durch diese Umstände mehr für Sprache sensibilisiert werden. Das Fehlen von Körperlichkeit zwingt uns, auf Worte zu achten. Ich hoffe, das überträgt sich auch aufs Publikum.

Theater ist ein Mannschaftssport, und gerade unter einer neuen Intendanz muss eine solche Mannschaft erst zusammenfinden. Wie gelingt das, wenn alle auf Abstand gehen sollen?

Autzen: Die Hälfte des Ensembles ist neu. Einige sind frisch von der Schauspielschule, das heißt sie kommen ohne Familie oder ohne Partner und Partnerinnen nach Konstanz. Privater Austausch findet kaum oder gar nicht statt, weil wir die Produktionen untereinander schützen und trennen müssen. Wir versuchen das durch Zoom-Meetings, Spaziergänge oder projektbezogen auszugleichen. Vielleicht hat sich aufgrund der Situation trotzdem der „Mannschaftsgedanke“ schnell hergestellt. Alle ziehen am selben Strang. Aber es ist und bleibt traurig und hart für einen Neustart.

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In der Gesellschaft wie auch in der Kulturszene gibt es bei beschlossenen Maßnahmen eine große Spannbreite an Reaktionen: Manche äußern Wut, andere Verständnis. Wie nehmen Sie das wahr?

Autzen: Ich glaube, der Ernst der Lage ist inzwischen allen bewusst. Zwar ist es natürlich ein Schlag in die Magengrube, wenn Theater trotz der aufwendigen Hygienekonzepte schließen sollen. Aber es sterben zurzeit fast 400 Menschen am Tag, die Infektionszahlen sind einfach zu hoch. Für Unverständnis sorgt nur die Ungleichbehandlung: Warum dürfen Kaufhäuser geöffnet haben? Kultur hat einfach keine Lobby und wenn Konsum vor Kultur geht, wird es für unsere Gesellschaft und für das Theater gefährlich.