Wie schreibt man einen Text über Kinder, wenn der Tag so begonnen hat? Nach einer Nacht, in der das Kleinkind unruhig wie ein Brummkreisel durchs Bett rotiert ist, blinkt auf dem Handy nach dem Aufwachen als Erstes die Mail aus der Kita auf: Notbetreuung! Nur zehn Kinder heute.
Panischer Blick in den Familienkalender: Kannst du heute? Nein, du? Auch nicht. Omas? Weit weg. Also Tempo machen, anziehen, Frühstück, Zähne putzen. Geschrei. Zähne putzen, jetzt! Geschirr und Wäsche bleiben liegen. Ab ins Auto, Glück gehabt. Das Kind bekommt noch einen Platz, jetzt ins Büro. Die Teilzeituhr tickt. Einatmen, ausatmen.
Eine echte Mutter schafft das
Hatte ich mir das mit dem Kinderhaben nicht ganz anders vorgestellt? Müsste mir das alles nicht viel leichter fallen? Schließlich bin ich doch eine Frau. Gemacht fürs Kinderkriegen, sagt mir die Gesellschaft. Eine echte Mutter schafft das. Puh!
Genau hier ist das Problem, sagt Wiebke Schenter. Die 41 Jahre alte Influencerin und Content Creatorin aus Wien erreicht unter dem Namen „piepmadame“ auf Instagram Tausende Menschen und spricht offen darüber, was es für sie heißt, zwei Kinder zu haben – oder genauer gesagt: Mutter zu sein.
„Ich bereue es, Mutter geworden zu sein“
Schenter nimmt dabei eine Position ein, für die sie, so sagt sie und so lässt es sich in den Kommentaren ihrer Beiträge in dem sozialen Netzwerk nachvollziehen, immer wieder hart verurteilt wird.
Denn Schenter sagt offen: „Ich liebe meine Kinder, aber ich bereue es, Mutter geworden zu sein“. Sie kämpft damit gegen den Mythos Mutter und eine Rolle, die als Norm gilt und in die sie einfach nicht hineinpasst.

„Ich dachte, ich bin nicht in Ordnung“
Bis Schenter ihre Reue so klar aussprechen konnte, dauerte es Jahre. „Ich habe dieses Gefühl, diesen inneren Zweifel, die Schuldgefühle lange auf mich bezogen. Ich dachte, dass ich nicht in Ordnung bin. Dass mit mir etwas falsch ist, weil ich mich in dieser Rolle so unwohl fühle. Und dass ich mich nur etwas mehr anstrengen müsste.“
Aber das Gefühl ging nicht weg und verwandelte sich nach der Geburt ihres zweiten Wunschkindes im Corona-Jahr 2020 in Wut – als sie aus dem Wochenbett direkt in den ersten Lockdown schlitterte.
Wiebke Schenter saß nicht mehr nur in ihrem inneren Gefängnis, nein, nun gab es auch noch ein äußeres, sagt sie: „Da bin ich so wütend geworden über dieses ganze System, diese ganze Mutterrolle, diese ganze Lebenslüge, die ich da versuche auszufüllen und die mir so widerstrebt.“
„Mütter stellen ihr Glück gerne hinter das ihrer Kinder.“ „Mütter wissen instinktiv, wie sie Mutter sein sollen.“ „Jede Frau will Kinder haben.“ Und: „Du wirst es bereuen, wenn du kein Kind bekommst!“ Es sind Sätze wie diese, die Schenter infrage stellt, weil sie spürte, dass Fremdbestimmung, Selbstaufgabe sowie keine Ziele und Träume mehr zu haben, ihr die Luft nahmen.
Schenter ergriff die Flucht nach vorn, machte ihre Gefühle öffentlich, überwand die Scham und ermutigt seitdem andere Frauen. Denn sie ist mit ihrem Gefühl der Reue nicht alleine.
Laut einer YouGov-Umfrage aus dem Corona-Jahr 2022 würden 20 Prozent der Eltern in Deutschland keine Kinder mehr bekommen, wenn sie es erneut zu entscheiden hätten. Bei Eltern unter 44 Jahren ist der Anteil noch größer. Mehr als die Hälfte der befragten Eltern hat Verständnis dafür, dass es Mütter gibt, die es bereuen, Kinder bekommen zu haben.
Der Muttermythos bröckelt
Betrachtet man Folgen von Mutterschaft, also etwa Erhebungen zur Lohnlücke zwischen Männern und Frauen, schaut auf Karriereknicke, die Menge und Last von unbezahlter Sorgearbeit oder aufs Thema Altersarmut, so lässt sich nicht verleugnen, dass sich hier durchaus Gründe finden lassen, warum Mütter mit ihrer Situation unglücklich sind. Die Themen füllen Bücher und das Internet.
Und dann ist da noch die Forschung der israelischen Soziologin Orna Donath, die sich vor zehn Jahren überhaupt erst an das Tabu der bereuenden Mutter heranwagte und den Stein in Deutschland so richtig zum Rollen brachte. Ihre Untersuchung zu „Regretting Motherhood“ (englisch für „Bereuen der Mutterschaft“), für die sie Gespräche mit Frauen unterschiedlicher Hintergründe geführt hatte und in der sie die bereuende Mutter sichtbar machte, löste eine Flutwelle an Reaktionen aus.
Frauen ergreifen das Wort
Unter dem Hashtag #regrettingmotherhood ergriffen seitdem Frauen das Wort, um ihre Gefühle zu teilen, brachen aus ihrer ihnen zugedachten Rolle und dem Konflikt, den sie mit dieser Rolle erlebten, aus. Der Mythos der sorgenden und aufopferungsvollen Mutter, die naturgegeben und instinktiv liebt, erzieht und sorgt und dabei ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellt, begann sichtbar zu bröckeln.
„Und doch wollen wir fast sehnsuchtsvoll verhindern, dass diese von realen Frauen gemachten Erfahrungen unsere mythischen Vorstellungen von der Mutter zunichtemachen“, schreibt Donath in ihrem Buch „#Regretting Motherhood. Wie Frauen mit einem unerlaubten Gefühl leben“. Aber warum eigentlich?
Glück und Unglück zugleich
Weil der Muttermythos ein Mittel des Patriarchats zur Unterdrückung der Frau ist, sagen Feministinnen. Dem sei nur mit Aufklärung beizukommen, sagt Wiebke Schenter. „Es ist mein Job, mich darüber zu informieren, Bücher zu lesen, mich auszutauschen.“ Das tue sie auch für Frauen, denen dafür selbst die Kraft oder Zeit fehle. Und: „Der Hass, der mir entgegenschlägt, ist ein Beweis, wie wichtig meine Arbeit ist.“
Dabei geht es nicht darum, Müttern, die in ihrer Rolle aufgehen, ihr Glück zu nehmen oder „die Geburtenzahlen herunterzufahren“, wie Orna Donath schreibt. „Wir müssen Frauen, die aus dem Rahmen fallen, eine Berechtigung geben. Wie gut wäre es, wenn wir das Denken einfach aufbrechen könnten und sagen: Du bist so eine Mama und ich bin so eine Mama und beide sind genau richtig in dem, wie sie fühlen“, erklärt Wiebke Schenter, die in ihren Inhalten auf Instagram auch immer wieder auf die Gleichzeitigkeit und Ambivalenz von Gefühlen hinweist: Frauen können auch großes Glück verspüren, wenn sie erleben, wie ihre Kinder groß werden und zugleich todunglücklich sein mit dem, was das Muttersein ihnen in unserer Gesellschaft abverlangt.
Ihren Kindern gegenüber macht Schenter deutlich, dass sie Raum für sich braucht. Dass ihr das Mamasein nicht leichtfällt. „Es ist wichtig, authentisch mit den Kindern umzugehen. Zeig dich als Mensch, nicht in der Rolle der Mutter. Ich versuche, meinen Kindern zu sagen, dass meine Bedürfnisse neben ihren stehen und ich Zeit für mich brauche.“ Sie selbst wolle als Wiebke gesehen werden. Nicht als „Mama von“. Und was rät Schenter Frauen, die überlegen, ob sie ein Kind bekommen? „Wenn du zweifelst, dann lass es. Es ist schon schwer genug, wenn du es wolltest.“
Irritierende Gedankenspiele
Wer Wiebke Schenter zuhört, hört an vielen Stellen, dass sie auch Umstände wie Kitakrise, unbezahlte und ungleich verteilte Sorgearbeit, fehlende Sorgegemeinschaften, eine kinderunfreundliche Gesellschaft als Gründe für das Unglück vieler Mütter benennt. „Ich kann gar nicht genug äußere Zwänge aufzählen“, sagt sie und bringt Schlagworte wie Viertagewoche oder ein Grundeinkommen für Pflegende ins Gespräch.
Wer den politischen Diskurs der vergangenen Wochen in Deutschland verfolgt hat, stolpert hingegen über Gedankenspiele, dem Elterngeld an den Kragen zu gehen – und ansonsten über recht gähnende Leere, wenn es um Kinder-, Familien- oder Elternpolitik geht. Der nächste stressige Morgen mit Notbetreuung kommt bestimmt.