Eine alte Frau, die weinend vor ihrem brennenden Haus in einem ukrainischen Dorf sitzt, schwarze Fensterhöhlen in einem ausgebrannten Hochhaus in Kiew, ein einsamer Teddybär, den ein Kind auf der Flucht verloren hat: Bilder von Kriegen sind schon für Erwachsene schwer auszuhalten. Umso schlimmer ist es für Kinder. „Sie haben schnell das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen gerät“, sagt Professor Michael Huss.

Der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Uniklinik Mainz hat erlebt, welche Ängste der Ausbruch des Ukraine-Kriegs bei Kindern ausgelöst hat. „Viele hatten das Gefühl, die Nächsten sind wir“, erinnert sich Huss an die ersten Wochen des Konflikts. Kinder wollten nicht mehr alleine im Dunkeln schlafen, waren nach den Fernsehnachrichten völlig verstört, fragten die Eltern: „Mama, Papa, kommt der Krieg jetzt auch zu uns?“

Michael Huss ist Psychologe und Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität in ...
Michael Huss ist Psychologe und Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. | Bild: Fredrik Von Erichsen/dpa

Die erste Aufregung ist inzwischen einer gewissen Normalität gewichen, sagt Huss. Allerdings sorgt das Weltgeschehen konstant für Nachschub an erschreckenden Bildern. So haben auch die teils sehr brutalen Bilder vom Hamas-Überfall auf Israel und dem folgenden Gaza-Krieg Kinder aus der Ruhe gebracht.

Sie waren allerdings nicht ganz so bedrohlich, weil sich das Geschehen in einem weiter entfernten Teil der Welt abspielt. Doch die Kriegsangst hat sich in deutschen Kinder- und Jugendzimmern wieder eingenistet – und sie hat die Angst vor den Folgen des Klimawandels überholt.

Mehr Angst vor Krieg als vor Klimawandel

Vor allem bei den Kleineren können Eltern aus Sicht des Experten viel tun, damit ihre Kinder – unabhängig von den konkreten Konflikten – schlechte Nachrichten besser verkraften. Einfach ausblenden lässt sich die grausame Welt aber nicht, weiß der Psychiater. „Ein Fernsehverbot ist nicht angesagt“, sagt Huss. Es würde wohl auch nichts nützen.

Eltern haben jenseits des Kleinkindalters keine Deutungshoheit für die Welterklärung, da sind Freunde, die Schule und die sozialen Medien. „Eltern können keine Informationsinseln generieren“, sagt Huss. Viel wichtiger sei aber das eigene Beispiel: „Die Bewältigung von belastenden Situationen lernen Kinder am Rollenmodell der Eltern.“

Tipp des Experten: authentisch sein

„Die hohe Kunst besteht darin, authentisch mit der Situation umzugehen“, sagt der Experte, der selbst vierfacher Vater ist. So könne man den Kindern vermitteln, dass man sich zwar auch Sorgen macht, sollte ihnen aber auch sagen, dass man nicht davon ausgeht, der Krieg komme auch zu uns. Schönreden müsse man die Welt nicht. „Kinder haben instinktiv ein sehr gutes Gespür, ob ihnen irgendetwas Falsches erzählt wird.“ Eine Rolle spielt auch der Medienkonsum. „Man muss auf jeden Fall sich und seine Familie vor zu vielen grausamen Bildern schützen“, rät Huss. Die Endlosschleife mit den immer wieder gleichen Bildern aus Kriegsgebieten tue keinem gut.

Was Kinder auch immer bewegt, ist die Frage: Wer sind die Bösen? Huss rät Eltern, im Falle des Ukraine-Kriegs zu sagen, dass Russland angegriffen hat und man deshalb findet, dass dort die Schuld liegt. Aber man solle den Kindern auch klar sagen, dass Nachrichten die Fakten nicht immer eins zu eins übermitteln.

Nach russischen Bombenanschlägen brennt ein Auto vor einem durch die Angriffe beschädigten Geschäftszentrum in Charkiw in der Ukraine. ...
Nach russischen Bombenanschlägen brennt ein Auto vor einem durch die Angriffe beschädigten Geschäftszentrum in Charkiw in der Ukraine. Aufnahmen wie diese können Kinder verstören. | Bild: George Ivanchenko/AP/dpa

Der Experte für Kinderseelen ist erleichtert, dass vom Ukraine-Krieg mit wenigen Ausnahmen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in Tageszeitungen keine Bilder von Leichen oder blutüberströmten Verletzten gezeigt wurde. „Die Filter der Öffentlich-Rechtlichen haben funktioniert“, sagt er. Allerdings habe es aus Israel und dem Gazastreifen weitaus brutalere Bilder gegeben. Vor allem die Bilder von verzweifelten Kindern in Gaza sind Huss in Erinnerung geblieben. „Das ist ganz schrecklich, da muss man dann als Eltern wirklich zensieren“, sagt er.

Huss rät, auch älteren Kindern ganz klar zu sagen: „Wenn du solche Bilder anschaust, brennen sie sich ein. Du musst lernen, sie dir nicht anzusehen.“ Hilfreich sei es schon, einen Raum in der Familie zu schaffen, um solche Berichte gemeinsam anzuschauen. Gegen die Toxizität solcher Bilder helfe reden. Für jüngere Kinder rät er zum Kinderkanal Kika, dessen Erklärungen leichter verdaulich seien als die Fernsehnachrichten im Abendprogramm.

„Geschichten produzieren im Kopf eigene Bilder, die man steuern kann.“
Michael Huss, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Uniklinik Mainz

Die Wirkmächtigkeit von Bildern sei nicht zu unterschätzen, sagt der Psychiater. „Geschichten produzieren im Kopf eigene Bilder, die man steuern kann. Bilder in Medien suggerieren dagegen eine Faktenlage, an der man nicht vorbeikommt.“ Das sind dann die Bilder, die einen nicht mehr loslassen. Wobei Huss das nicht nur auf Bilder von expliziter Gewalt im Krieg bezieht: Auch Szenen mit Angeklagten, die wie Tiere in Käfige gesperrt und damit jeder Würde beraubt werden, seien extrem verstörend.

Eine Gruppe von Kindern berühren die Bilder von Gewalt und Zerstörung in ganz besonderem Maße: Kinder und Jugendliche, die selbst Kriege erlebt und eine Flucht hinter sich haben. Bei ihnen werden nicht nur neue Ängste geweckt, Bilder und Berichte reißen auch die alten, noch nicht verheilten Wunden auf. „Müssen wir jetzt wieder aufs Schiff?“, fragte beispielsweise ein syrischer Junge seine Mutter, als er die Bilder von den Zerstörungen in Kiew sah. Sie erinnerten ihn an seine Heimat und weckten die Erinnerungen an die dramatische Flucht übers Mittelmeer.

Wichtig: Bedürfnisse der Kinder ernst nehmen

Den Umgang damit findet auch Huss schwierig. „Das Wichtigste ist, dass man die Kinder nicht retraumatisiert.“ Zunächst gelte es, die regressiven Bedürfnisse der Kinder ernst zu nehmen und zu erfüllen, sie also mal wieder im Bett der Eltern schlafen zu lassen und auch zum Einschlafen das Licht nicht auszuschalten. „Da muss man den Kindern einfach ein Stück entgegenkommen.“ Gar nicht so viel reden, in den Arm nehmen, beruhigen, die gleiche Frage zehnmal beantworten. Sich klarmachen, dass es da eine tiefe seelische Wunde gibt, die Zeit zum Heilen braucht und immer wieder aufreißen kann.

Wenn Eltern überfordert sind, seien „kultursensitive Hilfen“ gefragt, wie Huss das nennt. Beratungen möglichst von Menschen aus dem eigenen Kulturkreis, die auch ein gemeinsames Verständnis von Medizin teilen. Traumatisierungen seien etwas anderes als Angsterkrankungen, bei denen die Psychiatrie rät, sich angstauslösenden Situationen dosiert auszusetzen. Für Therapeuten sei es wichtig, sich sehr stark vom Patienten leiten zu lassen und nicht allzu paternalistisch aufzutreten.

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Auch die ukrainischen Familien, die vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet sind, werden von den Bildern und Erlebnissen verfolgt. Huss, dessen Familie selbst Geflüchtete bei sich aufgenommen hat, erinnert sich, wie die Familie in Endlosschleife die Bilder von den Zerstörungen ihrer Heimat betrachtete. Noch in Mainz sei die Tochter jedes Mal zusammengezuckt, wenn sie am Himmel ein Flugzeug gesehen habe.

Die Sprache ist nicht die einzige Hürde

Wie sehr die Hilfe für vom Krieg traumatisierte Menschen auf den kulturellen Hintergrund Rücksicht nehmen muss, zeigte sich auch bei der Behandlung schwer traumatisierter ukrainischer Kinder und Jugendlicher, die an der Mainzer Uniklinik behandelt wurden.

Huss stellte fest, dass nicht nur die Sprache eine Hürde bildete. Die Gesundheitssysteme sind sehr unterschiedlich, psychiatrische Versorgung spielte in der Ukraine keine große Rolle. Schwer magersüchtige Mädchen, die in Mainz ankamen, waren in der Ukraine von Gastroenterologen behandelt worden. Für Huss ist das keine Überraschung: „Mit jeder Gruppe von Geflüchteten gab es eigene Schwierigkeiten, ein Hilfesystem zu entwickeln.“