Frau Korocencev, wie kam es dazu, dass Sie in Waldshut-Tiengen lebende Geflüchtete aus der Ukraine unterstützen?
Als am 24. Februar 2022 die Nachricht von der russischen Invasion in die Ukraine kam, war mir klar, dass viele Ukrainer nach Deutschland fliehen werden. Ich wollte helfen und habe bei der Stadt Waldshut-Tiengen und dem Landratsamt angefragt, ob ich was tun könnte, beispielsweise übersetzen. Zu diesem Zeitpunkt lebten nur wenige Ukrainer hier.
Der damalige Oberbürgermeister Philipp Frank nahm Kontakt zu mir auf und ich wurde Bindeglied zwischen der Stadt, dem Helferkreis Asyl und den Geflüchteten. Die Stadt und ich als Privatperson organisierten in der Folge gemeinsam mehrere Friedenskundgebungen und als Vorsitzende des später gegründeten Vereins „Ukrainer am Hochrhein“, bin ich seitdem auch Hauptorganisatorin der Feier zum Unabhängigkeitstag der Ukraine. Mittlerweile helfen die Geflüchteten sich auch sehr stark gegenseitig, was mich sehr freut.
Wie unterstützen sich die Geflüchteten gegenseitig?
Sie haben mittlerweile viele Kontakte untereinander, es gibt Telegramm- und WhatsApp-Gruppen, in denen sie sich austauschen. Ukrainische Geflüchtete, die schon länger hier sind, helfen neu Angekommenen, sich im Alltag zurechtzufinden, begleiten sie zum Beispiel zum Arzt oder zu Behörden. Unser Verein muss nicht mehr so oft einspringen als anfangs, aber es gibt immer noch viel zu tun.

Wir haben ein Dolmetscherteam und kümmern uns um kompliziertere Fälle, wenn es zum Beispiel um Pflege-, Behinderung- oder Integrationshilfe geht. Ein konkreter Fall: Eine ältere Frau musste notfallmäßig mit dem Hubschrauber ins Unispital nach Zürich gebracht werden. Es fehlten die Papiere. Wir konnten helfen und vermitteln. Wir haben auch jemanden, der ehrenamtlich hilft, wenn es um das Schreiben von Bewerbungen geht.
Bei bestimmten Anlässen gibt es regelmäßig Stände von ukrainischen Geflüchteten – was für Aktionen gibt es warum?
Neben den Friedenskundgebungen und der Feier zum Tag der Unabhängigkeit der Ukraine, sind wir regelmäßig auf Märkten in Waldshut-Tiengen, Lauchringen, Dogern und Bad Säckingen. Wir verkaufen ukrainisches Essen wie Borsch, das ist ein Eintopf mit roter Beete, den koche ich immer. Außerdem verkaufen wir Handarbeiten, teilweise sind sie hier gemacht worden, teilweise kommen sie aus der Ukraine. Mit den Verkaufserlösen haben wir zum Beispiel schon einen Krankenwagen für die Ukraine gekauft und Notstromaggregate für ukrainische Schulen, weil durch die Bombardierungen der Strom oft ausfällt. Wir haben Transporter organisiert, die regelmäßig in die Ukraine fahren. Es ist für uns sehr wichtig, dass wir hier was tun.
Wie viele Ukrainer leben hier?
Ich habe keine Zahlen, aber ich denke, es sind ein paar Tausend, die am Hochrhein leben, hauptsächlich Frauen, Kinder und ältere Leute. Es kommen derzeit eher wenige, weil es teilweise Aufnahmestopps gibt. Was aber immer noch gut geht, ist die Familienzusammenführung.
Wie nehmen Sie die Stimmung unter den Geflüchteten wahr und erinnert Sie die Situation an Ihr eigenes Weggehen?
Als mein Mann und ich 1995 nach Deutschland aufbrachen, um uns hier ein neues Leben aufzubauen, war das keine Flucht, sondern unsere eigene Entscheidung. Wer seit Kriegsausbruch nach Deutschland kam, wurde aus dem Leben gerissen und landete ohne Sprachkenntnisse in einer fremden Umgebung, viele hatten kaum etwas bei sich, oft nicht einmal einen Reisepass. Es traf alle völlig unvorbereitet. Niemand hat damit gerechnet, dass es passiert und dass der Krieg so lange dauert. Alle hier haben noch Verwandtschaft in der Ukraine, es ist ganz schlimm für sie nicht zu wissen, ob sie die Familienmitglieder und die Heimat jemals wiedersehen. Viele sprechen kaum über die Situation, weil es einfach zu schmerzhaft für sie ist.
Wollen die meisten zurück?
Es kommt darauf an, woher die Geflüchteten kommen. Wer aus den besetzten Gebieten wie Mariupol kommt, sieht keine Chance auf eine Rückkehr. Es ist alles zerstört oder enteignet, alles, was sie dort hatten, ist weg. Sie wissen, sie können nicht zurück und bauen sich deshalb zielorientiert hier ein neues Leben auf. Sie haben Arbeit, ihre Kinder gehen in Kindergärten und Schulen, ich denke, sie werden bleiben. Geflüchtete aus bombardierten Grenzgebieten leben in großer Unsicherheit. Sie wissen nicht, ob sie zurück können oder nicht. Diejenigen, die aus Gebieten kommen, von denen sich einige Zeit nach Kriegsausbruch gezeigt hat, dass sie nicht besetzt werden, wollen meistens zurück. Viele sind auch schon zurückgekehrt.
Sind die Ukrainer hier auch stolz auf den Widerstand, den ihre Heimat leistet?
Ja, ich denke, viele sind schon auch etwas stolz. Als die UdSSR zerfiel, ging die Ukraine eher Richtung Westen. Russland konnte es nicht ertragen, dass die Ukraine eigene Wege ging, dass die Ukrainer freie Menschen sind und nicht aufgeben dafür zu kämpfen, als freie Menschen leben zu können.
Was sind Ihrer Erfahrung nach die größten Herausforderungen, mit denen Geflüchtete bei uns zu kämpfen haben?
Mit dem Schulbesuch lief es gut. Die Kinder kamen sofort in Klassen. Bei den Kitas war es anfangs schwierig. Es gab keine Plätze und sehr lange Wartelisten, aber das ist für alle so. Aber auch das hat sich mittlerweile eingespielt. Auf Sprachkurse müssen die Geflüchteten immer noch sehr lange warten, was aber ebenfalls wie der angespannte Wohnungsmarkt, ein allgemeines Problem ist. Dass fast alle Geflüchteten privat untergekommen sind, ist vielen zu verdanken. Insgesamt gesehen, haben es meiner Meinung nach Waldshut-Tiengen und der Landkreis gut hingekriegt. Die Ukrainer fühlen sich nicht allein gelassen, es ist eine gute Zusammenarbeit. Von Anfang an bis jetzt sind wir permanent in Kontakt mit dem Landratsamt und der Stadt Waldshut-Tiengen.
Werden Abschlüsse anerkannt?
Ukrainische Schulabschlüsse werden mehrheitlich anerkannt. Anders ist es bei Berufsabschlüssen, besonders bei hoch qualifizierten wie Arzt oder Lehrer. Da ist die Anerkennung oft schwierig, man muss zuerst ein gewisses Sprachniveau mit einem formellen Zertifikat nachweisen und da man auf die Kurse lange warten muss, dauert das oft sehr lange. Ich kenne eine Frau mit Diplomen als Lehrerin, die jetzt im Pflegeheim arbeitet und ihr Mann hat Jura studiert und ist jetzt Busfahrer. Besser ist es in der IT- Branche. Da haben viele schnell passende Stellen gefunden oder sich selbstständig gemacht.
Welche Erfahrungen machen ukrainische Geflüchtete mit Arbeitgebern?
Grundsätzlich ist bei der Arbeitsvermittlung noch Luft nach oben. Wir würden uns freuen, wenn mehr Arbeitgeber auch Menschen ohne gute Sprachkenntnisse einstellen oder ein Praktikum anbieten würden. Bei manchen funktioniert es, bei anderen nicht. Es kommt leider auch vor, dass Arbeitgeber Geflüchtete ausnützen und den Arbeitsvertrag nicht korrekt umsetzen, weil die Geflüchteten ihre Rechte nicht kennen.
Dauert der Krieg noch lange? Und was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich bin keine Militärexpertin, ich kümmere mich um die Menschen. Solange ich den Geflüchteten aus der Ukraine hier helfen kann, den Schmerz der Flucht zu lindern, werde ich das tun. Aber ich hoffe natürlich, dass irgendwann alles etwas einfacher wird und ich wieder etwas mehr Zeit für mein Privatleben haben werde.