Es war ein Montag, als Georg Gänswein zuletzt bei einem offiziellen Termin im Vatikan gesehen wurde. Eine Delegation des Simon-Wiesenthal-Zentrums war am Vormittag des 20. Januar bei Papst Franziskus zur Audienz. Die Vertreter der Menschenrechtsorganisation begegneten dem Papst im Konsistorien-Saal des Vatikan. Im selben Raum hatte Benedikt XVI. im Februar 2013 den versammelten Kardinälen auf Latein seinen Rücktritt angekündigt. Wenn man so will, dann beginnt und endet die Geschichte des Mannes, der zwei Päpsten diente, in ein und demselben Raum.

Die schweren Vorhänge in der dritten Loggia des Apostolischen Palastes lassen nicht besonders viel Licht in den Saal. Aber der Hof-Fotograf des Papstes hat den vorerst letzten Auftritt des Präfekten des Päpstlichen Hauses und Erzbischofs aus dem Schwarzwald auf zahlreichen Bildern festgehalten. Man kann sie im vatikanischen Fotoarchiv studieren.
Während die Gäste Franziskus die Hände schütteln, steht Gänswein in schwarzer Soutane lächelnd im Abseits. Geschäftsmäßig, professionell, undurchschaubar wie immer. Neben ihm Kardinal Kurt Koch, der Ökumene-Minister. Ob der Erzbischof da bereits wusste, dass es vorbei ist mit den Auftritten im Rampenlicht?
Mit Diskretion aus der Tapetenwand
Zwei Tage später, bei der Generalaudienz in der Aula Paul VI. im Westflügel des Vatikans, ist keine Spur mehr von ihm. Der Italiener Leonardo Sapienza, Gänsweins Stellvertreter als Präfekt des Päpstlichen Hauses hat seine Rolle übernommen. Der Präfekt ist für die offiziellen Amtstermine des Papstes zuständig, für Staatsbesuche und Audienzen. Gänswein war der heimliche Herrscher im Apostolischen Palast, hier diente er Benedikt XVI. seit dessen Wahl zum Papst im Frühjahr 2005. Seit 2013 organisierte er den offiziellen Terminplan von Franziskus.
Gänswein war die personifizierte Kontinuität im Vatikan. Er pendelte zwischen den Päpsten, kannte jeden Winkel, jeden Mitarbeiter, jeden Geheimgang im Palazzo. Wenn man hier unterwegs war, konnte es sein, dass plötzlich ein grauhaariger Prälat mit dem iPhone in der Hand in größter Eile und Diskretion aus einer der Tapetenwände trat, um die nächste Mission im Dienste Seiner Heiligkeit zu erfüllen: Georg Gänswein.

An ihm führte kein Weg vorbei, wenn man auf Tuchfühlung mit dem Oberhaupt von 1,3 Milliarden Katholiken gehen wollte. Als zwei Tage später Mike Pence, der Vize-Präsident der Vereinigten Staaten im Vatikan vorstellig wurde, hatten Vatikan-Kenner keinen Zweifel mehr. Gänswein, der seit seiner Ernennung zum Präfekten im Dezember 2012 mit strahlendem Lächeln jeden Staatsgast im Damasus-Hof des Vatikans beim Aussteigen aus der Limousine im Namen des Papstes begrüßte, war endgültig von der Bildfläche verschwunden. Sapienza hieß Pence willkommen. Erzbischof Gänswein? „Desaparecido“, verschwunden, raunten die Südamerikaner um Papst Franziskus, die seit sieben Jahren im Vatikan das Sagen haben.
Flammendes Plädoyer fürs Zölibat
Zehn Tage später wird durch einen Zeitungsbericht bestätigt, was die Spatzen in Rom bereits von den Dächern pfiffen. Papst Franziskus hat die Geduld mit Gänswein verloren und ihn auf unbestimmte Zeit als Präfekt beurlaubt. Der Tropfen oder besser gesagt die Flutwelle, die das Fass zum Überlaufen brachte, war am 15. Januar die Veröffentlichung des Buches „Aus der Tiefe unserer Herzen“, ein flammendes Plädoyer zur Beibehaltung des Priesterzölibats. Verfasst hatten sie der ultrakonservative Präfekt der Gottesdienstkongregation, Robert Kardinal Sarah und Benedikt XVI.
Ja, Joseph Ratzinger hatte sich trotz seines Gelöbnisses, nach dem Rücktritt 2013 „für die Welt verborgen“ zu leben, zu der derzeit heikelsten Frage des Katholizismus geäußert. In einer Phase, in der der vom Amtsinhaber Franziskus ein Machtwort zu derselben Thematik erwartet wurde. Von einem Versuch der Einflussnahme zu sprechen, ist da noch milde formuliert.

Der Ärger des amtierenden Papstes richtete sich nicht auf den 92-jährigen Benedikt, der kaum noch laufen und sprechen, aber immer noch fließend formulieren kann. Nein, Franziskus machte dessen Alter Ego für den Fauxpas verantwortlich. Gänswein, Privatsekretär Benedikt XVI., ist der Ansprechpartner für alle diejenigen, die noch mit dem Papa emeritus zu tun haben wollen. Mit ihm und vier Haushälterinnen lebt Gänswein seit dem traumatischen Auszug aus dem Apostolischen Palast im Vatikan-Kloster Mater Ecclesiae hinter dem Petersdom.
Die beiden Männer feiern morgens die Frühmesse zusammen, besprechen die wichtigsten Dinge. Dann lief der Erzbischof hinüber in sein vornehmes Büro im Apostolischen Palast und machte die Agenda für Franziskus. Nach dem Mittagessen beten Gänswein und Benedikt XVI. in den Vatikangärten den Rosenkranz, abends kehrte der Erzbischof in sein Büro zurück und blieb dort bis spät nachts. 2017 erlitt Gänswein einen Hörsturz. Es gibt Menschen im Vatikan, die sagen, er habe zu vielen Herren gehorchen wollen.
In einem offiziellen Vatikan-Statement von Anfang Februar heißt es, die Abwesenheit Gänsweins sei „einer gewöhnlichen Umverteilung der verschiedenen Aufgaben und Funktionen des Präfekten des Päpstlichen Hauses geschuldet“. Der Erzbischof werde sich künftig mehr um den emeritierten Papst kümmern. Von einer Beurlaubung oder gar Entlassung ist offiziell nicht die Rede, doch die Reibungen waren zu viel geworden. In Santa Marta, dem Gästehaus, in dem Franziskus wohnt und privaten Besuch empfängt, sprach man schon länger von Gänswein als einer Art „dritten Papst“. Sekretär des Alt-Papstes, Organisator der Audienzen des Amtsinhabers, ein Diener zweier Herren, der zuletzt ein gefährliches Solo spielte.
„Schöner Giorgio“ und „Mister No“
Wie hoch wollte der vor 63 Jahren in Riedern am Wald im Südschwarzwald zur Welt gekommene Prälat hinaus? Gänswein, seit 1995 im Vatikan tätig, war freundlich im Umgang, aber ehrgeizig und knallhart in der Substanz. Während die Klatschzeitschriften früher vom „schönen Giorgio“ schwärmten, war die interne Fama des Ratzinger-Vertrauten eine ganz andere. „Mister No“ wurde der Privatsekretär auf den Vatikan-Korridoren abschätzig genannt, weil er oft akribisch, manchmal fast manisch den früheren Papst vor Anfragen, Überflüssigem, Belästigungen bewahren wollte.
Ein päpstlicher Privatsekretär agiert als Filter, der für seinen Chef die Spreu vom Weizen trennt. Doch wer kontrolliert den Kontrolleur? Gänswein hatte viel Macht angehäuft. Schon bald umgaben ihn im Vatikan mehr Neider als Bewunderer. Die eigentliche Zielscheibe des späteren Vatileaks-Skandals war nicht etwa Benedikt XVI., sondern sein Privatsekretär. Von Gänsweins Schreibtisch klaute der Kammerdiener Paolo Gabriele die Dokumente und gab sie an die Öffentlichkeit. Eine Seilschaft selbsternannter Ratzinger-Freunde hatte den Privatsekretär im Visier.
Zahlreiche Querschläger
Dies alles hilft, um das jähe, vorläufige Ende der Laufbahn des Karriere-Prälaten zu verstehen. Dabei arbeitete Gänswein durchaus mit an der Zäsur. Er war es schließlich, der die fragwürdige Zweisamkeit von Amtsinhaber und Emeritus, den Petrusdienst mit einem „aktiven und einem kontemplativen Teilhaber“ postulierte. Gänswein verhinderte auch nicht, dass Benedikt XVI. auf dem Gipfel der Missbrauchsdebatte einen umstrittenen Aufsatz veröffentlichte, in dem er die Lockerung der Sexualmoral nach 1968 für die Missbrauchsfälle im Klerus verantwortlich machte.
Es gibt Stimmen, die behaupten, es steckte System hinter den Querschlägern Benedikts, ein System namens Gänswein. Es ist kein Geheimnis, dass dieser mit allerlei Franziskus-Opponenten vernetzt und regelmäßig bei Veranstaltungen als Haupt-Gast eingeladen war, bei denen Franziskus alles andere als gut wegkommt.
Und so, wie sich Gänswein als Diener zweier sehr unterschiedlicher Herren mäandernd aufrieb, so ging sein Doppeldienst auch zu Ende. Am Vorabend der Veröffentlichung von „Aus der Tiefe unserer Herzen“ am 15. Januar, versuchte er offenbar die Reißleine zu ziehen. Benedikt XVI. habe nie ein Buch „zu vier Händen“ autorisiert, bei der Veröffentlichung unter seinem Namen handelte es sich um ein „Missverständnis“, diktierte der Privatsekretär den Presse-Agenturen. Es war der untaugliche Versuch, den Affront gegenüber Franziskus abzuschwächen.
Am Tag darauf, Gänswein begleitete Franziskus ein letztes Mal zur Generalaudienz, telefonierten die beiden Buchautoren. Benedikt XVI. und Kardinal Sarah versicherten sich offenbar tränenreich ihrer gegenseitigen Solidarität und setzten eine nie veröffentlichte Erklärung auf. So rekonstruierte der ausgezeichnete Vatikan-Kenner Sandro Magister die entscheidenden Stunden.
Es gab kein Missverständnis, man war sich einig bis ins Detail. Gänswein stand zwischen allen Fronten: Am Ende war der Mann, der die gerissenen Fäden zwischen den Päpsten in den Händen hielt, alleine und isoliert. Dem konservativen Bewahrer Benedikt XVI. und dem zaghaften Reformer Papst Franziskus gleichzeitig zu dienen, ist von extremer Schwierigkeit. Sich selbst dabei auch noch treu zu bleiben, ein Ding der Unmöglichkeit.