Es war kein schöner Tag in Rom, dieser 19. April 2005. Kalt pfiff der Wind vom Hafen Ostia herauf und fegte über den Petersplatz. Zehntausende Menschen warteten auf den neuen Papst, der gewählt werden sollte. Sie schauten regelmäßig zu dem klapprigen Schlot hinauf, der die einzige Verbindung der Kardinäle zur Außenwelt war.

Am frühen Abend ein dünnes Wölkchen. Es war grau, sollte aber weiß sein und damit signalisieren, dass die Welt einen neuen Papst hat. Er war als Favorit ins Konklave gegangen und hatte es als Benedikt XVI. verlassen. Die Sensation war perfekt: Joseph Alois Ratzinger, damals 78, führt die katholische Kirche.

Bei Ratzingers Wahl überwog die Freude

Der schwere rote Vorhang auf der Loggia des Petersdomes wird gelüftet und das runde Gesicht des Bayern tritt hervor. Ratzinger trägt bereits die schwere goldene Stola über der weißen Soutane.

Da deren Ärmel zu kurz sind, schaut der schwarze Pulli hervor, den er sich für die Nächte in der kühlen Sixtinischen Kapelle mitgenommen hat. Man muss sich schon warm anziehen, wenn man nicht weiß, was kommt. Und es verdeutlicht die Spannung zwischen Wollen und Können. Auch der Papst ist nur ein Mensch, wenn er friert.

Dennoch überwog die Freude. Nur die Kellner in den Bars rund um den Petersplatz waren enttäuscht: Wäre es nicht Zeit gewesen, dass wieder ein Italiener in den Apostolischen Palast einzieht – nach dem 28 Jahre dauernden Interregnum des polnischen Papstes Johannes Paul II.? Inzwischen ist es Gewissheit, dass Italien keinen Anspruch auf das Papstamt hat. Franziskus ist der dritte Pontifex, der nicht aus dem Land am Mittelmeer kommt.

Ein Deutscher im Weltamt

Die Aufregung in Deutschland war damals ungeheuer. Die Boulevardzeitung „Bild“ titelte begeistert: „Wir sind Papst!“ Ja, durfte man sich denn freuen, wenn ein Deutscher dieses einzigartige Weltamt übernimmt? Britische Zeitungen zeigten den 17-jährigen Ratzinger in seiner HJ-Uniform und unterschoben dem damals 17-Jährigen eine Nähe zum NS-Regime.

Kardinal Frings (re.) nahm den jungen Theologen nach Rom mit.
Kardinal Frings (re.) nahm den jungen Theologen nach Rom mit. | Bild: dpa

Das war lächerlich, doch zeigte es klar an, dass er von Anfang an unter verschärfte Beobachtung gestellt wurde. Unter Generalverdacht. Seine Besuche in Polen und damit Auschwitz (2005) waren ein Balanceakt. Die Visite in Israel prägte die eiserne Absicht, nur nichts falsch zu machen. Eine gewisse Ängstlichkeit lastete über den kommenden acht Jahren. Deutlich war Benedikt XVI. die Angst anzumerken, etwas falsch zu machen.

Die ersten Monate nach der Wahl waren eine Zeit der Euphorie. Von einer „Rückkehr der Religion“ war 2005 die Rede. Viele Kommentare und Meinungsumfragen waren sich einig. Damit verbunden war der Wunsch einer Erneuerung. Eine seiner stärksten Reden hatte sich dem gewidmet. Beim Eröffnungsgottesdienst, der dem Konklave vorausging, hatte er noch deutlich Position bezogen. Kardinal Ratzinger warnte vor der „Diktatur des Relativismus“.

Die Predigt konnte man als Summe seines bisherigen Denkens lesen, und so wurde sie auch verstanden: Mit Relativismus meinte er das „alles ist möglich“, eine Welt ohne Werte und verbindliche Marken. Das war eine klare Botschaft. Von manchen Beobachtern wurde sie als Kandidatur interpretiert: Hier wirft einer seinen Kardinalshut in den Ring und drängt an die Spitze.

Die falsche Freiheit

Joseph Ratzinger hat das immer verneint. Er wollte nicht Papst werden. Zuvor hatte er bereits vieles erreicht, war zum mächtigsten Mann in der Kurie aufgestiegen. In den 90er Jahren bot er mehrfach seinen Rücktritt an, um im Eigenheim in Niederbayern in Ruhe Bücher zu schreiben.

Papst Johannes Paul II. (links) förderte Kardinal Ratzinger.
Papst Johannes Paul II. (links) förderte Kardinal Ratzinger. | Bild: Frank Leonhardt, dpa

Der Wojtyla-Papst ließ ihn nicht ziehen. Er brauchte den klugen Professor aus Bayern. Als Präfekt der Glaubenskongregation hatte er über wahr und falsch befunden. Er verwaltete und ordnete die katholische Lehre und entschied, was in das große christliche Gemälde passt und was nicht.

Die Theologie der Befreiung hatte er ohne Umschweife verurteilt. Für viele Theologen und Seelsorger in Südamerika brach damit eine Brücke der Verständigung zusammen. Im Rückblick von mehr als 30 Jahren kann man sagen: Das Verdammen dieses Weges war ein Fehler. Sie stand auch im Kontext der Furcht vor dem Kommunismus, zu dessen nützlichem Idioten sich die katholische Kirche nicht machen wollte.

Umstritten als Präfekt

Noch ein Ereignis fällt in seine Zeit als Präfekt, die immerhin 23 Jahre währte: In dem Dokument Dominus Jesus wertete er die evangelischen Kirchen „nicht als Kirchen im eigentlichen Sinne“. Sie seien höchstens kirchliche Gemeinschaften, aber eben keine vollgültigen Kirchen. In Deutschland kam das Schreiben als Absage an die Ökumene an. Nach der Papstwahl 2005 sahen viele bereits eine Eiszeit heraufziehen. Der Deutschlandbesuch 2011 schien es zu bestätigen: Das Treffen zwischen Benedikt und führenden Vertretern war freundlich, aber steif.

Das Bild aus dem Jahr 1932 zeigt den jungen Joseph Ratzinger bei der Einschulung.
Das Bild aus dem Jahr 1932 zeigt den jungen Joseph Ratzinger bei der Einschulung. | Bild: AFP Photo / Erzbistum München und Freising / HO

Die Überraschung über seine Wahl war deshalb in Deutschland am größten. Dort hatte er gerade in kirchlichen Kreisen den Ruf des Panzerkardinals – unnahbar, menschenscheu, dogmatisch, konservativ. Ein eiserner Präfekt, der der Seelsorge längst entrückt war. Und der nach kurzer Bischofszeit in München kaum mit Seelsorge und zweifelnden Katholiken vertraut war.

Nach der Wahl trat das Unwahrscheinliche ein: Das Amt prägte die Person. Sie formte aus dem unnahbaren Glaubenswächter im Palazzo del Sant‘ Ufficio den Mann im Papamobil, der am Mittwoch seine Runde über den Petersplatz zieht. Benedikt XVI. kam auf Anhieb gut an, der Wechsel hatte sein Image ausgewechselt. Er genoss das Amt, wenigstens in den ersten Jahren.

Ein treuloser Diener

Dann kamen die Einschläge dicht an dicht. Teile der katholischen Verwaltung (Kurie) intrigierten und gaben vertrauliche Dokumente an die Öffentlichkeit. Als Vatileaks-Affäre ging dieser Misstrauensbruch in die Kirchengeschichte ein. Er ist bis heute nicht ganz aufgeklärt. Auch der päpstliche Kammerdiener war daran beteiligt. Die engste Umgebung schien zu revoltieren.

Georg Gänswein und der emeritierte Papst Benedikt XVI. 2020 am Flughafen München.
Georg Gänswein und der emeritierte Papst Benedikt XVI. 2020 am Flughafen München. | Bild: Sven Hoppe, dpa

Schwerer wog der Versuch, die Traditionalisten der Vereinigung Pius X. näher an die katholische Kirche zu binden. Benedikt und seine Mitarbeiter blamierten sich. Ihnen war entgangen, dass in der Bruderschaft auch antisemitische Priester und Bischöfe tätig sind. Und dass sie ein Problem hatten mit der Demokratie, mit Frauen, mit dem Konzil und seinen Ideen von Aufbruch. Dass, mit einem Wort, nicht alle Menschen weltweit katholisch sind oder sein wollen.

Rückzug vom Amt – aus freien Stücken

Das Regieren fiel ihm zunehmend schwer. Hinter dem Charisma des weißen Mannes in der weißen Soutane steckte noch immer der Professor, der lieber Bücher schreibt als Akten wälzt. In drei Bänden vollendete er sein theologisches Lebenswerk: Es handelt vom Kern der christlichen Lehre, nämlich Jesus von Nazareth. Es wurde, der gehobenen Sprache zum Trotz, ein Bestseller. Das hat kein Papst vor ihm geschafft.

Noch etwas macht Benedikt XVI. einzigartig: der Rückzug vom Amt – aus freien Stücken und kraft eigener Entscheidung. Sein Privatsekretär Georg Gänswein hatte ihm davon abgeraten (und dabei wohl auch an den eigenen Wertverlust gedacht).

Doch Benedikt zog es durch, am Rosenmontag 2013 gab er seine Entscheidung bekannt. Wer ihn aus der Nähe erlebt hat wie viele Gläubige und Bischöfe in Deutschland, kann bestätigen: Er war nicht gut beieinander. Die Tortur seines Vorgängers wollte er nicht wiederholen. Dafür erntete er größten Respekt.

Wer schreibt, der bleibt

Das verhinderte freilich nicht, dass er im Ruhestand von der Missbrauchsdebatte eingeholt wurde. Von 1977 bis 1982 war Benedikt Erzbischof der Diözese München und Freising. Ein Ende Januar 2022 veröffentlichtes Gutachten warf ihm in vier Fällen Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch in seinem Bistum vor. Er geriet weiter in die Kritik, als er kurz darauf über sein Sprachrohr Georg Gänswein eine eigene Angabe korrigierte: Entgegen seiner ersten Aussage nahm er am 15. Januar 1980 doch an einer Sitzung teil, in der es um einen Priester ging, der als Missbrauchstäter bekannt war.

Am 22. September 2011 sprach Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag.
Am 22. September 2011 sprach Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag. | Bild: Herbert Knosowski, dpa

Später bat der körperlich schwache Benedikt alle Missbrauchsopfer in einem Brief um Entschuldigung. Benedikt-Anhänger lobten ihn, Kritikern war das zu wenig. Gänswein witterte eine Kampagne gegen den emeritierten Pontifex und reagierte mit bitteren Worten. „Es gibt eine Strömung, die die Person und das Werk zerstören will“, beklagte der aus dem Südschwarzwald stammende Erzbischof in einem Interview mit einer italienischen Zeitung.

Nun ist der frühere Papst im Alter von 95 Jahren in Rom gestorben. In einem kleinen Kloster in den Vatikanischen Gärten hatte er die letzten Jahre so gelebt, wie er sich das gewünscht hat: Kontemplativ, schreibend, den Tod erwartend. Sein Gesundheitszustand soll sich, so heißt es in italienischen Medien, schon vor Weihnachten verschlechtert haben, der 95-Jährige habe unter Atemnot gelitten. Sein Nachfolger, Papst Franziskus, hatte ihn vor wenigen Tagen noch im Vatikan besucht. Beide ahnten wohl, dass nicht mehr viel Zeit bleibt.

Was bleibt von seinem Pontifikat?

Was bleibt von seinem Pontifikat? Benedikt XVI. kann als letzter mitteleuropäisch geprägter Papst in die Geschichte eingehen. Sein Denken war von deutscher Gründlichkeit. Als Seelsorger war er stark auf eine traditionelle Liturgie ausgerichtet mit starken Sympathien für die Feierlichkeit seiner Jugend mit schweren Messgewändern und lateinischer Sprache. So bleibt er ein Mann des 20. Jahrhunderts – bis man seine Bücher aufschlägt. Sie gehören zum Besten, was über Gott und die Welt in deutsche Sprache geschrieben wurde und tragen noch viele Jahre.

Benedikt XVI. an seinem 90. Geburstag mit Horst Seehofer (li.) und Sekretär Georg Gänswein.
Benedikt XVI. an seinem 90. Geburstag mit Horst Seehofer (li.) und Sekretär Georg Gänswein. | Bild: Lena Klimkeit, dpa

Vielleicht bleibt Joseph Alois Ratzinger als der Papst in Erinnerung, den man lesen kann. Er hat nicht den Drachen des Kommunismus besiegt wie sein Vorgänger und die Menschen auch nicht zum Lachen und Staunen gebracht wie sein Nachfolger Franziskus.

Er ist auch nicht der religiöse Leader, der die Massen in Trance versetzt. Sein Vermächtnis ist ein rationaler Zugang zum Glauben. Fragen, reflektieren, vergleichen – das sind die Werkzeuge, mit der auch an der Religion gearbeitet wird. In seinen Büchern hat er die Werkzeuge erklärt und dargelegt. Darin liegt das große Verdienst des Gendarmensohns aus Oberbayern. Nicht der größte, aber der tiefsinnigste Nachfolger des Fischers Petrus in seinem Jahrhundert.