Am CDU-Stand auf dem sonnenbeschienenen Villinger Münsterplatz steht Renate Breuning und verteilt orangene Einkaufswagenchips, CDU-Broschüren, Gummibärchen und Äpfel an alle, die sie haben wollen. Bis zuletzt macht die 74-jährige ehemalige Gemeinderätin Werbung für ihre Partei und deren Kanzlerkandidaten. „Ich war von Anfang an für Armin Laschet“, sagt sie. Enttäuscht sei sie aber von Markus Söder, denn der CSU-Chef lasse keine Gelegenheit aus, von hinten zu treten.
Es drohen Machtverlust und Machtkämpfe
„Die letzten zwei Wochen merken wir eine bisschen bessere Stimmung“, sagt Breuning. Tatsächlich hat die Union den Abstand zur SPD ein wenig verringert. Aber drei Tage vor der Wahl liegen die Sozialdemokraten noch immer mit 25 Prozent mindestens drei Punkte vor der Union. Damit würde die CDU/CSU-Fraktion mehr als ein Drittel der Sitze, die sie heute im Bundestag einnimmt, verlieren. Kommt es, wie die Umfragen sagen, droht der Union ein Machtverlust – und mehr als das: Sollte ihr Kanzlerkandidat am Sonntag krachend scheitern, stehen Machtkämpfe an zwischen dem liberalen Merkel-Flügel Laschets und den Konservativen rund um Friedrich Merz an. Die CDU könnte sich dabei selbst zerfleischen.

Von solch düsteren Vorahnungen ist auf dem sich langsam füllenden Münsterplatz am Donnerstagvormittag allerdings wenig zu spüren. Aus den Lautsprechern dudelt Gute-Laune-Musik. Viele Ältere sind gekommen, um den Kanzlerkandidaten aus der Nähe zu erleben, aber auch Familien und Jugendliche haben es irgendwie geschafft, an einem Werktag um 11 Uhr frei zu haben.
Der Alt-Ministerpräsident ist auch da
Ganz vorne, in der ersten Reihe vor der Bühne, wo die CDU ein paar Dutzend Sitzplätze aufgebaut hat, nimmt der wohl prominenteste Zuhörer Platz: Erwin Teufel (82), Villinger Ehrenbürger, ehemaliger Ministerpräsident Baden-Württembergs und langjähriger Landtagsabgeordneter des Wahlkreises Villingen-Schwenningen, ist gekommen, um Laschet zu unterstützen und weil er sich seinem alten Wahlkreis verbunden fühlt. „Wenn man mich einlädt, komme ich.“ Es gehe ihm gut, erzählt der Alt-Ministerpräsident dem SÜDKURIER. Laschet habe er vor Jahren in Aachen kennengelernt, damals habe dieser Orgel gespielt. Er finde es großartig, dass Laschet bis zuletzt unter die Leute gehe – und dann auch noch nach Villingen komme.

Tatsächlich gibt der CDU-Kanzlerkandidat im Wahlkampf-Endspurt noch einmal alles. Kreuz und quer reist der 60-Jährige durch die Republik: Stralsund am Dienstag, St. Wendel im Saarland und Rottenburg am Mittwoch, Villingen-Schwenningen und abends noch die Schlussrunde in ARD und ZDF am Donnerstag, der Nockherberg in München wartet am Freitag und in seiner Heimatstadt Aachen tritt er zum Abschluss am Samstag noch einmal gemeinsam mit der Kanzlerin auf. Der Tourbus mit dem Laschet-Konterfei, der auf dem Villinger Münsterplatz geparkt ist, ist also mehr Dekoration denn Transportmittel. So eng getaktet wie der CDU-Spitzenkandidat ist, lassen sich die Wege teils nur noch mit dem Hubschrauber bewältigen, wie sein Sprecher berichtet.
Wie viele Direktmandate fallen weg?
Tags zuvor haben einige Querdenker und Klimaaktivisten Laschets Kundgebung gestört. Auch in Villingen sind sie mit Plakaten vertreten. „Wir fordern unsere Grundrechte sofort zurück“ und „Klimawandel hat keine Zeit“, steht darauf. Unter den geschätzt 500 Interessierten, die sich auf dem Villinger Münsterplatz versammeln, überwiegen die CDU-Anhänger. Der Schwarzwald-Baar-Kreis ist eine sichere CDU-Bank, war es zumindest immer. Der Wahlkreisabgeordnete Thorsten Frei zog 2013 mit 56,7 Prozent der Erststimmen in den Bundestag ein, 2017 waren es immerhin noch 47 Prozent. Auf der Wahlkreis-Rechner-Seite election.de sei sein Wahlkreis einer der wenigen, die immer dunkelblau geblieben seien, erzählt Frei. Dunkelblau steht für „CDU/CSU sicher“. Insofern sei er demütig, aber optimistisch.
Und doch hat die CDU gerade im Südwesten viel zu verlieren. CDU-Landeschef Thomas Strobl, der in Villingen mit auf der Bühne steht und für Laschet die Werbetrommel rührt, hat zwar als Zielmarke ausgegeben, wieder alle 38 Direktmandate zu holen. Doch daran gibt es Zweifel: Michael Wehner von der Landeszentrale für politische Bildung geht davon aus, dass die CDU eher mit 30 plus X rechnen kann.

Als Laschet schließlich mit einer Viertelstunde Verspätung auf die Bühne tritt, wird er von Thorsten Frei als „zukünftiger Kanzler der Bundesrepublik Deutschland“ begrüßt. Der NRW-Ministerpräsident wird erstmal persönlich: Die Stadt Villingen wecke Urlaubsgefühle bei ihm und seiner Frau, erzählt er. Wenn man auf der Fahrt an den Bodensee, wo Laschet seit Jahrzehnten seinen Urlaub verbringt, an Villingen vorbeikomme, wisse man, dass es nicht mehr weit sei. Nun also hat er es zum ersten Mal in die baden-württembergische Doppelstadt hinein geschafft.
Laschet reagiert auf die Protestplakate
Die Rede, die der 60-Jährige hält, wirkt recht spontan. Er greift die Protestplakate auf, die auf dem Münsterplätz geschwenkt werden und reagiert auf Zwischenrufe. Er will in Dialog treten. Er habe immer gesagt, dass die Grundrechte zurückgegeben werden müssten, sobald die Inzidenzen sinken, sagt er zu den Corona-Maßnahmen-Gegnern. „Was aber gar nicht geht, ist der Hass. Denn auf böse Worte folgt die böse Tat.“ Den gerade von einem Maskenverweigerer verübten Mord an einem jungen Tankwart in Idar-Oberstein nennt er „unerträglich“. Applaus.

Dann die Klimafrage. Bis 2029 würden in Nordrhein-Westfalen zwei Drittel aller Braunkohle-Kraftwerke abgeschaltet. Doch man müsse bei der Klimapolitik auch die soziale Frage sehen. Klimapolitik müsse dafür sorgen, dass in Deutschland auch in 20 Jahren noch Autos produziert würden, dass Arbeitsplätze im Mittelstand erhalten blieben. Um den Klimaschutz zu stemmen, komme es vor allem darauf an, dass Deutschland wirtschaftlich stark bleibe – anders als unter Rot-Rot-Grün.
Hier ist er beim Leitmotiv des Unions-Wahlkampfs der vergangenen Wochen angelangt: der möglichen Koalition aus SPD, Grünen und Linken, die es zu verhindern gilt. „Wer will denn in Deutschland Rot-Rot-Grün?“, ruft Laschet seinem Publikum zu. Von hinten kommt Zustimmung, die er gerne aufgreift. „Danke, das sind zwölf Leute. Der Rest Deutschlands will das nicht.“ Laschet kann auch schlagfertig – das kommt an beim Publikum. Auch wenn die Klimaaktivisten mit Laschets Aussagen nicht zufrieden sind: Auch bei vollständiger Umsetzung des CDU-Programms hätte Deutschland das Doppelte des erlaubten CO2-Ausstoßes, sagt Jonas Klein vom Klima-Bündnis später dem SÜDKURIER.
Sie kennen mich – nicht
Der Aachener hat im Laufe des Wahlkampfs nicht viele Fehler gemacht, aber vieles auch nicht richtig gut. Das unpassende Lachen im Flutgebiet hängt ihm bis heute nach, x-mal musste er sich in Interviews seither dafür entschuldigen. Viel schwerer wiegt aber, dass er nie die Durchschlagskraft entwickeln konnte, die nötig gewesen wäre. Laschet habe Wahlkampf gemacht wie Angela Merkel, sagte der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Uni Hohenheim kürzlich im SÜDKURIER-Gespräch. Nach dem Motto „Sie kennen mich“, nur dass den Ministerpräsidenten aus Nordrhein-Westfalen auf Bundesebene eigentlich kaum jemand kannte. In Erinnerung ist den meisten Wählern bloß Laschets Hü und Hott in der Corona-Pandemie.

Bei den Fernseh-Dreikämpfen versuchte der Mann, der seine Favoritenrolle inzwischen eingebüßt hat, Boden gutzumachen: Er gab sich aggressiv, aber wirkte dabei nicht authentisch. Nur selten ist zu spüren, wofür der Aachener eigentlich steht. Migration ist kaum ein Thema im Wahlkampf, dass Laschet hier als Verfechter eines liberalen Einwanderungslands und als seinerzeit erster Integrationsminister Deutschlands klare Vorstellungen hat, kommt nicht zur Geltung. Konfus und verwaschen wirken seine Aussagen oft, sein Auftreten verkrampft.
Der Pro-Europäer blitzt auf
Auf der Bühne in Villingen allerdings wirkt der Aachener deutlich gelöster als man ihn aus den Triellen kennt. Er traut sich sogar, hin und wieder zu lachen. Das sei gar keine Rote-Socken-Kampagne, die die Union führe. Die habe Peter Hinze 1998 gemacht, „übrigens sehr erfolgreich“. Heute schaue er in die Programme und lese, was die Linke wolle, vom Nato-Austritt bis zum Nein zum europäischen Integrationsprozess. Kurz blitzt der Pro-Europäer Laschet auf. Auch als er seine Konsequenzen aus dem missglückten Afghanistan-Abzug vorstellt: Neben einem nationalen Sicherheitsrat im Bundeskanzleramt, den er einrichten möchte, will Laschet auch die europäische Verteidigungspolitik stärken. Europa müsse in der Lage sein, einen Flughafen wie den in Kabul zu sichern – „auch wenn die Amerikaner einmal nicht mitmachen“.

Nach seiner Rede strebt Laschet – von Fans dicht umringt und dennoch ohne Maske – zum Auto und zum nächsten Termin. Carmen und Edith Jäger aus Rottweil schaffen es noch, ein Selfie zu ergattern. Mutter Edith ist ganz ergriffen. Laschet sei konkret wie nie gewesen in seinen Aussagen. „Er ist halt nicht so der Typ für Trielle“, sagt Tochter Carmen. Beide gehören zum Wahlkampf-Team von Anna-Lena Weiss, die im Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen antritt. Heinz Härtge, Ehrenvorsitzender der CDU in Villingen lobt Laschets „hervorragende Ansprache“. „Er hat super reagiert auf die Proteste“, ergänzt seine Frau Herta. Klar, wo die beiden ihr Kreuz machen.
Drei junge Männer, 18 und 19 Jahre alt, sind weniger entschlossen, aber doch positiv beeindruckt von Laschets Wortgewandtheit. Luka Pastuovic, Adrian Hirt und Simon Haas sind in ihrer politischen Willensbildung jedenfalls ein Stück weitergekommen. Die anderen Parteien wollen sie sich bis Sonntag aber noch genauer anschauen.