Wer eine Firma wirklich verstehen will, begibt sich am besten in deren Sekretariat. Dort lagert nicht nur der Schlüssel für die Kaffeekasse, sondern geballtes Hintergrundwissen. Sekretäre und – noch viel mehr – Sekretärinnen kennen die internen Abläufe, die Hackordnung, die Schleichwege. Sie wissen um Vorgänge, die anderen verborgen sind, daher ihr Name: vom lateinischen secretarius – vertrauter Berater, (Geheim-)Schreiber.

Das gilt verstärkt für den Sekretär im kirchlichen Bereich und absolut für den Sekretär schlechthin: den Privatsekretär des Papstes. Georg Gänswein übernahm diese Aufgabe für Papst Benedikt XVI. Er tat nicht nur einen Job, nein: Er erfand diese Rolle neu und gestaltete sie medienwirksam und bildmächtig in seinem Sinne. In der ersten Reihe standen der Papst – und er.

Frust, der sich angesammelt hat

Georg Gänswein trug seinem Herrn nicht nur die Aktenmappe nach, sondern wurde für Benedikt zum Faktotum, das ihn schirmte und schützte. Als der Bayer 2013 vom Stuhl des heiligen Petrus stieg, zog Gänswein, inzwischen zum Erzbischofs erhoben, mit in den Altersruhesitz in das kleine Kloster innerhalb des Vatikan. Nun zieht Gänswein seine Bilanz dieser Zeit, und mehr noch: Sein Buch ist Abrechnung mit dem amtierenden Papst.

Papst Franziskus (r) spricht bei seiner wöchentlichen Generalaudienz in der Vatikanischen Audienzhalle mit Georg Gänswein, ...
Papst Franziskus (r) spricht bei seiner wöchentlichen Generalaudienz in der Vatikanischen Audienzhalle mit Georg Gänswein, Kurienerzbischof und Präfekt des Päpstlichen Hauses. | Bild: ALESSANDRA TARANTINO, AP/dpa

Wer die Seiten liest, staunt, wie viel Frust sich in den vergangenen Jahren des 66-jährigen Mitarbeiters angestaut haben muss. Während er den Alt-Papst betreute, dessen Gäste empfing und das Leben in der Altersresidenz organisierte, lächelte er nur nach außen. Tatsächlich sah er sich gedemütigt von Franziskus, nachdem ihn dieser vom Amt des Protokollchefs entbunden hatte. Das war vor drei Jahren, und Don Giorgio war damit nur mehr für die Seniorenbetreuung zuständig. Aus der Öffentlichkeit war er verbannt, im Rampenlicht standen nun andere.

Wahrheit ist ein großes Wort

Die Kernsätze des Buches sind seit zwei gut zwei Monaten bekannt. Georg Gänswein hat es in italienischer Sprache verfasst, ein italienischer Journalist war ihm dabei behilflich. Merkwürdig ist nicht nur, dass der geborene Badener seinen Report in dieser Sprache verfasst; erstaunlich wirkt vor allem der Zeitpunkt: Benedikt war noch nicht in der Krypta unter dem Petersdom versenkt worden, da geisterten bereits die ersten Passagen seiner gemischten Bilanz durch die italienischen Zeitungen.

Während die Bilder des gramgebeugten Sekretärs um die Welt gingen, lasen die Italiener über den Unmut von Georg Gänswein, der sich in den Jahren im Dienst zweier Herren angestaut hatte.

Die Resonanz war verheerend. Kardinäle beklagten die plötzliche und verfrühte Gesprächigkeit von Gänswein. Das „Konradsblatt“, das in seiner Stammdiözese Freiburg erscheint, nannte das Ganze eine „Seifenoper“. Papst Franziskus äußere sich bei einer Mittwochsaudienz zu den Memoiren des Erz-Dieners Gänswein, er nannte sie „Klatsch und Tratsch“. Der Sekretär war vor dem Requiem indiskret geworden.

Das neue Buch von Georg Gänswein ist im Herder Verlag erschienen.
Das neue Buch von Georg Gänswein ist im Herder Verlag erschienen. | Bild: Herder Verlag

Bereits der Titel des Werkes ist steil: „Nichts als die Wahrheit“ steht auf der Titelseite. Damit behauptet Gänswein nichts anderes, als dass er Fakten präsentiert, wo andere nur mutmaßen. Er kenne die Zusammenhänge „aus erster Hand“, wie er schreibt, er schildere die „wahre Welt des Vatikan“. Wann steht der Papst auf, wann geht er zu Bett? Wie viele geistliche Schwestern sind im Haushalt zugange?

Für die großen Zusammenhänge freilich ist Gänswein keine unabhängige Quelle, kein Chronist – er ist Partei, Repräsentant der katholischen Welt von Benedikt, den er über alle Maßen verehrt und als Heiligen sieht. Für die spätere Geschichtsschreibung dürfte sein Buch als Quelle dienen, mehr nicht. Auf 320 Seiten verbreitet der Privatsekretär seine Sicht der Dinge, er verteidigt sich und seinen ehemaligen Chef. Es geht um seinen Ruf.

Worüber er schweigt

Dafür präsentiert er dem Leser Wahrheiten auf Lücke. Spannend sind stets jene Dinge, die er nicht anspricht. In Georg Gänsweins Buch vermisst man vieles, Fakten also, die schlicht ausgeblendet werden. Die Leserin blättert weiter, sucht, findet nicht.

Da ist zum Beispiel die Frage, warum er vor drei Jahren als Präfekt des päpstlichen Haushalts und Protokollchef abgelöst (offiziell: „beurlaubt“) wurde. Gänswein will von dieser Entscheidung aus heiterem Himmel getroffen worden sein, schreibt er. Sein Chef sagte es ihm mit in einfachen Worten so: „Sie bleiben jetzt zuhause.“

Die Spatzen von Rom hatten es längst von den Dächern gepfiffen, dass er mit Stil und Politik von Franziskus unglücklich sei. Dass er – aus Sicht des Argentiniers – sein eigenes Süppchen kochte. Im Raum stand konkret der Verdacht mangelnder Loyalität. Gänswein geht mit keinem Wort darauf ein.

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Die Fakten, die er darlegt, sind vielmehr dosiert. Wo es spannend wird, spart er aus. Kein Wort auch zu seiner eigentlichen Stellung. Die römischen Vatikanisti beschrieben ihn stets als mächtigen Monsignore, der die Fäden zu ziehen weiß. Vom „System Gänswein“ war immer wieder die Rede. Auch in dieser Frage ist der Sekretär sehr diskret – er beschreibt sich als Diener des obersten Dieners Gottes. Die Wahrheit dürfte anders ausgesehen haben, zumal sich Papst Benedikt nicht besonders für das Regieren interessierte.

Wo bleibt der Schwarzwälder?

Georg Gänswein stammt aus Riedern am Wald im Kreis Waldshut. Als großer Sohn der Heimat wurde er stets beschrieben und gefeiert. Neugierig sucht man in „Nichts als die Wahrheit“ nach dem Schwarzwald-Sound – und wird enttäuscht. Herkunft und Studium skizziert er nur mit wenigen Strichen. Dabei hätte der Sohn eines Schmids Stoff genug. In einem Satz blitzt es durch, wenn er schreibt: „Ich gefiel mir als Jugendlicher in der Rolle des Außenseiters mit Lockenmähne.“ Eigentlich wollte er an die Börse, um viel Geld zu verdienen.

Auch seine frühen Jahre als Student und junger Pfarrer bleiben eher im Dunkeln. Das Studium handelt er summarisch ab, man erfährt nicht einmal die Namen seiner Professoren. Dabei erlebte die Theologie in den 70er Jahren eine Blüte. Wollte er große Namen wie Anton Vögtle oder Karl Lehmann aussparen? Als junger Priester arbeitete Gänswein arbeitete auch in der Seelsorge – doch erfährt man nicht einmal den Namen der Gemeinde, in der als Kaplan eingesetzt war.

Was ebenfalls ungesagt bleibt: Sein Verhältnis zu seiner Heimatdiözese war nie besonders innig. Für die Verhältnisse des badischen liberalen Katholizismus war Georg Gänswein ein konservativer Vorposten. An einer Stelle lässt er das auch durchschimmern, wenn er schreibt: „Ich sehe mich als Hardliner abgestempelt.“ Das gilt nicht nur für die Zeit mit Benedikt, sondern bereits zuvor.

Wo bleibt der Papstbesuch in Freiburg?

Überhaupt seine deutsche Herkunft. Sie spielt in seinen Memoiren nur die Rolle eines Statisten. Georg Gänswein ist ein Mann des vatikanischen Apparates, seiner Machtkämpfe, seiner Gespräche. So bleibt der Papstbesuch in Freiburg im Jahr 2011, an dem er sogar mitwirkte, unerwähnt.

Was für Südbaden damals ein herausragendes Ereignis war, interessiert in der Rom-zentrierten Welt offenbar nicht. Dafür schildert der Sekretär seine Enttäuschung darüber, dass er nicht jene gute Wohnung erhielt, die qua Tradition ihm als Protokollchef zustünde. Überhaupt Tradition: Was seit Jahrzehnten so und so ist, darf sich nicht verändern – dieses Credo der Beharrlichkeit zieht sich seitenweise durch das Buch.

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. (l) sitzt 2019 neben seinem Privatsekretär Georg Gänswein.
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. (l) sitzt 2019 neben seinem Privatsekretär Georg Gänswein. | Bild: dpa

Die Frage der Tradition stellte sich auch nach dem Rücktritt von Papst Benedikt. Wie kleidet sich ein Papst im Ruhestand? Dafür gibt es kaum Vorbilder, da Benedikt mit seinem Schritt tatsächlich Neuland betrat. Sein Sekretär merkt dazu an, dass Benedikt auf wichtige Symbole des höchsten Amtes verzichtet und meint damit die pontifikale Stola sowie die roten Schuhe.

Was er verschweigt: Der springende Punkt sind nicht die roten Schuhe; sie waren ohnehin ein Sondermodell für Joseph Ratzinger. Jedes Kind erkennt einen Papst an der Farbe Weiß. Benedikt legte auch nach seinem Rücktritt die helle Soutane nicht ab und setzte damit ein Zeichen. Irgendwie war er immer noch Papst.

Gänswein war es, der die Verwirrung entfachte mit seiner Bemerkung, es gebe so etwas wie eine Teilhabe des Pensionärs am Papstamt – eine „kontemplative“ Seite dieses Amtes. Dabei haben nicht nur deutsche Kirchenrechtler geraten, dass ein sauberer Schnitt die beste Lösung wäre. Eine schlichte schwarze Soutane hätte alle Unklarheiten beseitigt. Gänswein blendet diese Diskussion völlig aus. Der Vatikan, so scheint es, ist eine Welt für sich. Die Stimmen von außen werden eher als Störung denn als Anregung aufgefasst.

Am Sonntag immer bayrisch

Dem Buch wurden in der ersten Hektik einige Indiskretionen vorgeworfen. Dieser Vorwurf geht ins Leere. Der Autor streut höchst sparsam Details aus dem päpstlichen Haushalt ein. Man erfährt da, dass Joseph Ratzinger immer schlecht geschlafen hat. Dass „er nie Problem mit der Verdauung hatte“, so wörtlich.

Und man liest, dass die Küche gut italienisch war mit Ausnahme des Sonntags: Dort wurde ein Abendessen nach bayrischer Art gereicht. Der Pontifex trank dazu gerne ein Radler mit viel Limonade und wenig Bier. Die Wahrheit ist: Benedikt war auch nur ein Mensch.

Das Buch: Georg Gänswein/Saverio Gaeta: „Nichts als die Wahrheit“. 28 Euro, 320 Seiten, Herder Verlag Freiburg