Baklava gehört zu der Sorte von Feingebäck, das ebenso ungesund wie köstlich ist. Baklava besteht aus Blätterteig, der in Honig eingelegt wird und wahlweise mit gehackten Walnüssen, Pistazien oder Mandeln befüllt wird. Der Stolz der arabischen Konditoren ziert nicht nur die Schaufenster in Damaskus.

Auch im Berliner Bezirk Neukölln gibt es eine Gegend, in der sich gefühlt in jedem vierten Geschäft die Baklava-Täschchen zu kunstvollen Pyramiden auftürmen.

Doch hat die Süßspeise ihre Unschuld verloren, seit arabische Aktivisten die Leckerei an Passanten verschenkten – aus Freude über die massiven Angriffe, die von der Hamas gegen Israel gefahren wurden. Seit deren Beginn am 7. Oktober ist die Sonnenallee vollends aus den Fugen. Ein Stadtteil in Anspannung.

In der Sonnenallee in Neukölln leben überwiegend arabische Familien.
In der Sonnenallee in Neukölln leben überwiegend arabische Familien. | Bild: Fricker, Ulrich

Die Bewohner des Kiez sind unter sich, sie gehen ihren Geschäften nach oder sitzen breitbeinig zwischen Döner-Stand und Straße. Nur die gelben Stadtbusse erinnern daran, dass man sich in einer deutschen Großstadt befindet. Ansonsten hat sich gerade die Sonnenallee in Neukölln den Titel Klein-Damaskus verdient. Die Straße ist in arabischer Hand. Cafés, Imbiss mit arabischem Drehspieß und Berge von Süßigkeiten bestimmen das Bild.

Herr Geiger bekommt es mit der Angst zu tun

Die Stimmung dort ist erregt, besonders bei den Männern, die das Bild beherrschen. Es vergeht kaum ein Abend, an dem die Polizei nicht von den Demonstranten provoziert wird. Wer sich nicht an den Pro-Palästina-Protesten beteiligt, bringt seine Meinung anders zum Ausdruck: Am Wochenende etwa blieb ein Großteil der Geschäfte, Bäckereien und Lokale in Neukölln geschlossen.

„Generalstreik“ stand auf Zetteln an einigen Fensterscheiben, in deutscher, englischer und arabischer Sprache. Als Zeichen der Solidarität mit Palästina sollten die Geschäfte geschlossen bleiben. Kinder gingen nicht zur Schule, Menschen nicht zur Arbeit.

Wie konnte es soweit kommen? Die Spurensuche in Neukölln gestaltet sich schwierig; die meisten drehen sich weg, wenn sie von einem Journalisten angesprochen werden. Außer Herr Geiger, der hat Zeit und gönnt sich vor einem der zahlreichen 24-Stunden-Läden eine frühe Zigarette. Herr Geiger wohnt seit vielen Jahren schon in Neukölln, er kennt seinen Kiez auswendig.

Auch die meisten Geschäfte werden von Männern aus Syrien, dem Irak oder dem Libanon betrieben.
Auch die meisten Geschäfte werden von Männern aus Syrien, dem Irak oder dem Libanon betrieben. | Bild: Fricker, Ulrich

Der 65-Jährige erzählt frei von der Leber weg. „Hier wohnen immer mehr Araber“, sagt der Deutsche, „vor allem die Geschäfte breiten sich aus“. Für Geiger ist das aber kein Problem, man akzeptiert sich, indem man aneinander vorbeilebt. „Hier macht jeder seinen eigenen Mist“, meint er, und das klappt. Denn die arabische Community vertritt die Sache der Palästinenser. Die Angriffe der Hamas auf Israel werden begrüßt.

Nicht von jedem Araber, versteht sich. Es gibt auch jene Organisationen, die den neuen Kriegszustand im Nahen Osten verurteilen. Auch in Neukölln. Erst am Donnerstag haben arabische und muslimische Verbände den Hamasterror in einer gemeinsamen Erklärung kritisiert, die vom örtlichen Bezirksbürgermeister Martin Hikel initiiert wurde.

„Sie wollen dem weit verbreiteten Bild der arabischen Demonstranten auf der Sonnenallee etwas entgegensetzen“, hatte Hikel in einem Interview mit der „Jüdischen Allgemeinen“ gesagt. Allerdings sind eben jene Stimmen noch immer leise, die der Pro-Palästineser dagegen laut.

Gespräch mit Gemütsmensch kippt ins Gegenteil

Das Gespräch mit dem Gemütsmenschen Geiger kippt indes ins Gegenteil. In der Tür des Ladens erscheint der Besitzer. Er schnauzt, fragt, warum vor seinem Geschäft fotografiert wird, will sofort verklagen, ohne den genauen Tatbestand zu kennen. Er verlangt das Löschen der Bilder, wird laut. Auch Herr Geiger wird jetzt nervös und verlangt, dass sein Bild gelöscht wird.

Das könnte Sie auch interessieren

Der versöhnliche Ton des Gesprächs ist dahin. Geiger flüstert: „Löschen Sie alles, sonst habe ich ein Messer im Rücken.“ Von kultureller Eintracht ist jetzt keine Rede mehr, der Mann hat Angst. Seinen echten Namen dürfe man nicht schreiben; deshalb heißt er in diesem Bericht auch „Geiger“.

Unser Treffen ist schon jetzt verunglückt, als die Frau des Ladenbetreibers auftaucht. „Die Israelis töten Babys“, schreit sie. Ein ruhiges Gespräch ist nicht mehr möglich. Am Ende beschimpft sie alle als „Terroristen“, die nicht ihrer Meinung sind. Und verschwindet in ihrem Geschäft.

Das ist keine Einzelmeinung. Den Angriff der Hamas reden hier fast alle klein. Plötzlich ist von den Gräueltaten der Israeli die Rede. Schnell wird klar: Die Menschen in der Sonnenallee reden von einem anderen Krieg, weil sie andere Nachrichten sehen. Weil sie deutsche Nachrichten für systematisch gefärbt, gefälscht, zionistisch halten.

Nicht ARD, ZDF oder eine seriöse Tageszeitung bilden die Faktenbasis der Gespräche hier, sondern Videos, die sich die Bewohner zuschicken und weiterleiten. Diese sind krass antisemitisch. Sie zeichnen das Bild friedlicher, aber unterdrückter Palästinenser – und von kriegerischen Juden, die aus dem Ausland unterstützt werden.

Die Polizei ist stark präsent auf der Sonnenallee. Fast täglich gehen junge Araber auf Berliner Straßen, um sich mit der Hamas zu ...
Die Polizei ist stark präsent auf der Sonnenallee. Fast täglich gehen junge Araber auf Berliner Straßen, um sich mit der Hamas zu solidarisieren. | Bild: Fricker, Ulrich

Auch Mehmet (Name geändert) zeigt solche Videos. Er steht an der Sonnenallee und betreibt einen urigen Kaffeeausschank. Aus einer altertümlichen Kanne gießt er das Heißgetränk in kleine Becher. Das Aroma wird durch zerstoßenen Kardamom verstärkt. Er setzt die Kanne ab, blättert auf seinem Handy und öffnet ein Video. Es zeigt eine verschleierte Frau, die gestikuliert und sich als Journalistin bezeichnet. Sie berichtet von schweren Verbrechen der Israelis, sagt Mehmet.

Verschwommene Bilder werden eingeblendet, sie sollen alles beweisen. Mehmet gerät in Fahrt, er erklärt in brüchigem Englisch seine Sicht der Dinge. Der Mann in den traditionellen Pluderhosen und schwarzer Weste denkt, dass die Hamas für die richtige Sache kämpfen. Das Video würde es doch belegen, oder? Ein Gespräch ist kaum möglich, da Mehmet wie die meisten hier kaum Deutsch spricht.

Pro-palästinensische Parolen auf Häusern und Bussen

Nervös flackern seine Augen auf die Seite. Ein hochbeiniger Mannschaftstransportwagen der Polizei dieselt vorbei. Eine blonde Polizistin mit Pferdeschwanz schaut herunter, Mehmet schaut hinauf. Kurz begegnen sich die Blicke, dann pendeln beide Augenpaare in den Neutralmodus zurück. Die Ordnungshüter fahren zwischen Fuldaer Straße und Hermannplatz permanent Streife, in großen und in kleinen Autos.

Den Zorn der arabischen Männer bekommen vor allem sie zu spüren. Immer häufiger werden die Beamten attackiert, die die Demonstrationen begleiten. Mitte vergangene Woche zum Beispiel haben zwei 25-Jährige mit Pflastersteinen nach ihnen geworfen, ein Beamter wurde getroffen. Die Polizei erließ Haftbefehl, einer der beiden Männer sitzt jetzt in Untersuchungshaft.

Die Jugendlichen im Viertel machen sich aber weiter einen Spaß daraus, pro-palästinensische Parolen auf Häuser und Busse zu sprühen. Die Polizei kommt kaum nach. Bis ihre Fahrzeuge vor Ort einbiegen, sind Sprayer und Zerstörer längst in den Hinterhöfen verschwunden.

Auch die meisten Geschäfte werden von Männern aus Syrien, dem Irak oder dem Libanon betrieben.
Auch die meisten Geschäfte werden von Männern aus Syrien, dem Irak oder dem Libanon betrieben. | Bild: Fricker, Ulrich

Zu den vielen Gesichtern der Sonnenallee gehört auch Mahdi. In seinem Tarnfleck-Aufzug wirkt er wie ein Reservist. Dabei ist der Kurde aus dem Irak ein sanftmütiger Gesprächspartner. Er betreibt einen der beliebten „Spätis“, in denen Menschen rund um die Uhr einkaufen können. Mindestens die Hälfte des Ladens ist mit Alkoholischem zugestellt, Bierkästen stapeln sich.

Mahdi schmunzelt über seine trinkfesten Kunden aus Berlin. Zur Gewalt im Gazastreifen sagt er nichts, auch weil es mit der Sprache holpert. Er klopft an eine Hintertür, eine blonde zierliche Frau erscheint. Sie stellt sich als Lisa vor und als Mahdis Frau. „Wir versuchen es“, sagt sie. Mahdi steht in seiner Militärkluft daneben. Er nickt verständig, sichtlich stolz auf seine deutsche Frau.

Die Stimmung hier vibriert. Die Parallelgesellschaft funktioniert leidlich, so lange sich niemand für die Meinungen und Neigungen des anderen interessiert. Doch nun geht es um harte Politik, um Blutschuld. Es wird ungemütlich im Parallelogramm, das bisher als Multikulti durchging.

Die Menschen sind verschlossen, kaum einer hier nennt seinen Namen. Dass das Überleben des Staates Israel zur deutschen Staatsraison gehört, dass das Überleben des Mini-Staates einen zentralen Punkt in der deutschen Politik bildet – diese Glaubenssätze mag hier keiner hören. Sie prallen an den Wänden der Gegenwelt in diesem Bezirk ab.

„Ohne uns Araber wäre Deutschland tot“

Noch ein Versuch. Die Tür zum „Lamsa“ steht weit offen – einem geräumigen Geschäft für Geschenkartikel. Es ist hell beleuchtet. Der Renner sind zierliche Mokkatässchen und flauschige Decken. Der Verkäufer (auch er will nicht namentlich genannt sein) spricht exzellent Deutsch. Nach anfänglicher Zurückhaltung zieht er den Joker: „Ich bin deutscher Staatsbürger, hier aufgewachsen.

Meine Eltern sind Palästinenser und nach Deutschland geflohen,“ berichtet er. Ihm kann also nichts passieren, er kann nicht ausgewiesen werden. Er dreht auf und versteigt sich in verwegene Theorien. „Ohne uns Araber wäre Deutschland tot. Wir zahlen doch die Steuern“, behauptet er und verweist auf die vollen Regale seines Geschäfts mit den vielen Spiegelchen. Auch mit einem deutschen Pass werde er immer Palästinenser sein.

Die Zeit wird nach Mekka gestellt: Diese Gebetsuhr können fromme Muslime in einem Geschäft mit Geschenkartikeln erwerben.
Die Zeit wird nach Mekka gestellt: Diese Gebetsuhr können fromme Muslime in einem Geschäft mit Geschenkartikeln erwerben. | Bild: Fricker, Ulrich

Schließlich kommt er auch auf Glaubensfragen. Der Verkäufer entpuppt sich als Hardcore-Muslim. Er belehrt: „Es gibt nur einen Gott. Alle Andersgläubigen interessieren mich nicht.“ Damit kommt das Gespräch an sein natürliches Ende. Der junge Mann trägt pralle Plastiktaschen auf die Straße, damit die Kundschaft auf die Decken aufmerksam wird, die man für den kalten Berliner Winter benötigt.

Letzter Blick in die glitzernde Auslage des Geschäfts. Eine merkwürdige Uhr im glänzenden Gehäuse steht da. An der Seite ist der Vermerk „Made in China“ aufgedruckt. Als Gebetswecker erinnert dieses Utensil den Gläubigen mehrmals am Tag an seine Pflichten. Außerdem gibt das praktische Gerät die Ortszeit von Mekka durch und einen kurzen Wetterabriss. Auf 26 Grad erwärmt die Sonne den heiligsten Ort der Muslime an diesem Tag im Oktober. So heimelig ist es in der Sonnenallee derzeit nicht.