Der Innenhof der Talvogtei in Kirchzarten reicht nicht aus, um alle unterzubringen, die Georg Gänswein gerne mal aus der Nähe erleben wollen. Seit drei Wochen seien die 320 Sitzplätze ausverkauft, erzählt Buchhändlerin und Veranstalterin Katrin Schmidt. Zunächst wanderten Interessierte bei der Kirchzartener Buchhandlung Bücherstube noch auf die Warteliste, bis auch die geschlossen wurde.
Hier im ehemaligen Wasserschloss der Freiburger Vögte findet an diesem Donnerstagabend einer der ersten öffentlichen Auftritte des Erzbischofs statt, seitdem dieser nach Freiburg umgesiedelt ist. Zuletzt hatte man viel über den Vertrauten des früheren Papstes Benedikt XVI. gelesen, über diesen wohl nicht ganz freiwilligen Umzug von Rom zurück in seine Heimatdiözese Freiburg. Aber was würde er selbst dazu sagen? Welchen Eindruck würde er machen?

Er macht auf jeden Fall Eindruck. Als er in Begleitung von Manuel Herder, Chef des Freiburger Herder-Verlags, den Talvogteihof betritt, sind alle Blicke und Handys auf den Mann in Schwarz gerichtet. Etwas blass sieht er aus, und gar nicht so groß wie gedacht. Claudia (57) aus Kirchzarten ist jedenfalls froh, eine Karte ergattert zu haben: „Er ist ein attraktiver Mann“, sagt sie und lächelt.
Schlagfertig im Gespräch
Auch im Gespräch mit Manuel Herder zeigen sich die Popstar-Qualitäten des Geistlichen: Er ist schlagfertig und humorvoll, die schwarze Strenge des Outfits täuscht. „Ich bin jetzt hier auf Arbeitsplatzsuche, beim Jobcenter“, sagt er mit einem Grinsen im Gesicht auf die leidige Frage, was er denn nun in Freiburg eigentlich machen werde.
Launig schildert er das Gespräch mit dem Papst. Franziskus habe geantwortet: „Jetzt können Sie mal Urlaub machen.“ Und danach? „Da machen Sie nochmal Urlaub“, so Franziskus laut Gänswein.
Die Frage, welche Aufgaben ein Bischof ohne eigenes Bistum, in Freiburg übernehmen soll, ist weiter ungeklärt. Bis auf die vage Aussage, Gänswein werde regelmäßig Gottesdienste im Freiburger Münster leiten, hat das Erzbistum nichts verlauten lassen. Gänswein sagt in Kirchzarten, dass er im Oktober noch Versprechen abarbeiten werde. Und danach wird man sehen.

Das muss schwer sein für einen, der noch bis vor kurzem in höchsten kirchlichen Kreisen zu Hause war, der am Weltgeschehen der letzten 20 Jahren an der Seite zunächst des Kardinals Ratzinger, später des Papstes Benedikt teilhatte. An der Spitze des globalsten Global Players überhaupt: der katholischen Kirche. Was er dabei erlebt hat, vor allem aber, wie er Benedikt erlebt hat, schildert er in seinem Buch „Nichts als die Wahrheit. Mein Leben mit Benedikt XVI.“
Alleiniger Anspruch auf die Wahrheit?
„Den Titel wird man ihm vorhalten“, schildert Verleger Herder seinen ersten Gedanken dazu. „Aber ich wusste, das passt zu ihm.“ Dass der päpstliche Sekretär so kurz nach dem Tod des Papstes Interna preisgab, hat von Anfang an für Kritik gesorgt. Nichts als die Wahrheit – wurde denn sonst gelogen? Ist nur Gänswein im Besitz der relevanten Informationen über Benedikts Rücktritt oder dessen Verhältnis zum Nachfolger? So kann man den Titel jedenfalls auch lesen. Gänswein stellt in Kirchzarten klar:
„Ich hatte nie die Absicht abzurechnen oder jemanden bloßzustellen.“Georg Gänswein
Gänswein ist nicht unumstritten. Er steht, wie auch Benedikt, für eine konservativere Kirche, als sich viele Katholiken das in Deutschland wünschen. In den Kardinalsfragen Frauen am Altar, Zölibat oder Haltung zu Homosexualität kommen allerdings auch unter Papst Franziskus wenig positive Anstöße aus Rom.
Buchhändlerin Schmidt berichtet im Gespräch mit dem SÜDKURIER von Anfeindungen. „Ich kauf nicht mehr bei Dir ein“, habe sie im Vorfeld zu hören bekommen. Davon ließ sie sich aber nicht beirren, sie will Diskussionsräume eröffnen. „Ich lade ja auch nicht nur Politiker zur Lesung ein, die ich toll finde“, sagt Schmidt. Ihr Eindruck von Gänswein: erstaunlich launig.
Gegen den „Rottweiler Gottes“
Eine wichtige Intention von Gänsweins Buch ist es, das Image von Benedikt zurechtzurücken. Dessen Stilisierung zum „Panzer-Kardinal“ oder „Rottweiler Gottes“ sei vom Amt des Chefs der Glaubenskongregation „unterirdisch mitgewandert“ ins Papstamt – und „völliger Blödsinn“. Gänswein sagt: „Das sind falsche Bilder, Zerrbilder, die richtig zementiert wurden.“
Egal, was Benedikt gesagt oder gemacht habe, das habe immer wieder durchgeschlagen. Er bewundert im verstorbenen Papst hingegen die Klarheit der Lehre und seine prophetische Weisheit, schildert ihn als leisen Mann, den der Missbrauchsskandal erschüttert habe und der noch als Kardinal erste Schritte zum Umgang der Kirche damit auf den Weg gebracht hatte.
Der Schreck über Benedikts Rücktritt hallt immer noch nach bei Gänswein. „Bis zum heutigen Tag sitzt der Schock in meinen Knochen“, bekennt der Mann aus Riedern am Wald. Der Verlust der Hausgemeinschaft mit den Schwestern und dem dann emeritierten Papst fehle ihm ganz erheblich, sagt er. „Das ist Familienleben geworden.“
Die Geschwister hören zu
Zeugen dieser Bekenntnisse wird im Publikum auch Gänsweins Ursprungsfamilie. Drei von vier Geschwistern sind aus dem Landkreis Waldshut gekommen, um den großen Bruder zu sehen und zu begleiten. Dass er wieder da ist, macht die Geschwister froh.
„Jetzt brauchen wir nicht mehr so weit reisen. Obwohl wir es ihm alle gegönnt hätten, in Rom zu bleiben“, sagt Helmut Gänswein, der jüngste Bruder, nach der Veranstaltung im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Der Wechsel nach Freiburg sei eine „extreme Umstellung“ für den Bruder, die Zeit brauche.

Während Georg eine Stunde lang einer nicht enden wollenden Schlange von Fans Autogramme gibt und für Fotos posiert, stehen die Geschwister und ein Cousin beisammen, warten geduldig. Der Georg sei „ein richtiger Strolch gewesen“, verrät sein Bruder Reinhard über den berühmten Geistlichen. „Dass der mal Pfarrer wird, hätten wir nie gedacht“, meint er uns schmunzelt.
Gänweins Buch „Nichts als die Wahrheit“ gewährt Einblick in das Innenleben des Vatikans. Unter anderem erfährt man Folgendes:
Der Draht zur Familie daheim ist in den 28 Jahren Rom – Gänsweins längster Station – nie abgerissen. Die Geschwister haben gerade beim Einrichten der neuen Wohnung im Freiburger Priesterseminar geholfen.
Jedes Jahr, erzählt seine Schwester Ursula, verbrachte der Bruder eine Woche im heimischen Riedern, dann noch ein paar Tage über Weihnachten – mehr Urlaub habe er nicht gehabt. Auch das wird künftig anders sein. Ob der Bruder in Freiburg glücklich wird? „Wir sorgen dafür, dass er da glücklich wird“, sagt Reinhard und lächelt.

Man hätte den früheren Papstsekretär gerne noch so manches gefragt. Zum Beispiel, wie er seine Zeit in Freiburg verbringen wird, was er zu den oben erwähnten Vorwürfen gegen sein Buch sagt, oder auch wo er die Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland sieht.
Doch weder Publikumsfragen noch Interviews mit der Presse sind erwünscht. Aber, wer weiß, möglicherweise gibt es dazu bald Gelegenheit. „Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Vielleicht begegnet man sich irgendwo. Ich bin ja jetzt hier daheim“, sagt Gänswein zum Abschied.