Das kleine Städtchen Isny im Allgäu hat ein großes Problem. Es hat keine Köche, Küchenhilfen und Kellner mehr. Das Café Panorama sucht welche, der Brauerei-Gasthof Engel und die Krone auch.

Sogar das Amami um die Ecke braucht neuerdings einen Pizzabäcker. Viele Gastronomie-Angestellte haben in den vergangenen Monaten ihrem Chef Adé gesagt: Sie haben nicht nur den Job gewechselt, sondern auch die Branche. Schürze und Kochmütze haben sie gegen den Blaumann eingetauscht.

Abgewandert in die Industrie

Ein gehöriger Teil der Gastronomie-Fachkräfte Isnys, so erzählt man es sich in der Gemeinde im baden-württembergischen Allgäu, ist in die Industrie abgewandert, genauer gesagt zum örtlichen Wohnmobilhersteller Dethleffs. Statt ungeregelter Arbeitszeiten, Minijobs und vergleichsweise magerem Gehalt erwartet sie dort eine Entlohnung nach IG-Metall-Tarif, freie Wochenenden und Bürogymnastik mit einem Fitness-Coach. Und: planbare Arbeitszeiten und eine langfristige Perspektive.

„Wir stellen laufend Menschen ein, und das Letzte, was wir tun, ist Mitarbeiter zu entlassen“, sagt Dethleffs-Kommunikations-Chef Robert Bielesch. Viele der Beschäftigten blieben 30 Jahre und länger im Unternehmen. Der Caravan-Markt boomt und Dethleffs mit ihm.

Großer Andrang bei der Vorstellung der Studie „e.home“ von Dethleffs auf dem Caravan-Salon Düsseldorf. Für das Unternehmen ...
Großer Andrang bei der Vorstellung der Studie „e.home“ von Dethleffs auf dem Caravan-Salon Düsseldorf. Für das Unternehmen aus dem Allgäu läuft es bestens. | Bild: Tillmann/Messe Düsseldorf/dpa

Um ungelernte Arbeitskräfte zügig einzuarbeiten, habe man am 1500-Mitarbeiter-Standort gerade erst die Qualifizierungsprogramme hochgefahren. Nur so gelinge es, die 20 bis 30 Stellen, die jährlich durch Fluktuation frei würden, wieder zu besetzen und gleichzeitig für die Zukunft vorzubauen.

Das könnte Sie auch interessieren

Isny ist überall in Deutschland. Kaum ein Flecken im Land, wo das Fachkräfteproblem nicht auf der Tagesordnung steht und die klassische Branchenstruktur über den Haufen zu werfen droht. Für die Wirtschaft hat sich das Thema zur Wachstumsbremse Nummer eins entwickelt – noch vor hohen Rohstoff- und Energiekosten.

Besonders angespannt ist die Lage im industriestarken und exportorientierten Baden-Württemberg, wo die Konjunktur nach dem Durchhänger in der Corona-Phase wieder deutlich anzieht und die Auftragsbestände der Firmen Rekordniveau erreicht haben.

Fachkräftemangel „ziemlich gruselig“

Hier stehen die Zeichen mit einer Arbeitslosenquote von 3,2 Prozent im Mai auf Vollbeschäftigung. In einzelnen Kreisen wie Biberach oder dem Bodenseekreis ist sie mit zwei Prozent und weniger längst erreicht. Die Nachfrage nach Arbeitskräften ist derzeit so hoch wie zuletzt vor knapp vier Jahren, als nahezu alle Branchen im Schlepptau einer boomenden Industriekonjunktur Rekorde einfuhren. Der Krieg in der Ukraine, eine zunehmende De-Globalisierung und die prognostizierte Corona-Welle im Herbst scheint all das nicht zu berühren.

Franz Schairer stimmt die Hoch-Stimmung auf dem heimischen Arbeitsmarkt nur zum Teil zuversichtlich. Zwar fällt es dem Experten der Agentur für Arbeit Konstanz-Ravensburg und seinen Kollegen derzeit besonders leicht, Menschen einen Job zu verschaffen. Die Dynamik, die der Fachkräftemangel derzeit entfaltet, hält er indes für „ziemlich gruselig“.

Mitten in der beginnenden Ferienzeit streicht die Lufthansa wegen Personalmangels Tausende Flüge an ihren Drehkreuzen Frankfurt und München.
Mitten in der beginnenden Ferienzeit streicht die Lufthansa wegen Personalmangels Tausende Flüge an ihren Drehkreuzen Frankfurt und München. | Bild: Federico Gambarini/dpa

Er muss es wissen. Denn jeden Tag fällt sein Blick auf einen Wert, der nur Arbeitsmarktexperten ein Begriff ist – die sogenannte Bewerber-Stellen-Relation. Sie gibt einen guten Hinweis, wie groß der Arbeitskräftepool ist, aus dem die Unternehmen schöpfen können. Die 3 ist dabei eine kritische Zahl. Kommen auf eine offene Stelle drei Bewerber, ist die Lage noch entspannt und das Fachkräftereservoir gefüllt. Werte darunter signalisieren eine zunehmende Unwucht im Arbeitsmarkt: Fachkräftemangel.

„In unserem Arbeitsamtsbereich liegen wir im Durchschnitt bei einem Wert von 1,4“, so Schairer. „In Branchen wie der Gastronomie und der Pflege sind wir deutlich unter 1, teils bei sogar 0,5 angelangt. Anders ausgedrückt kommt in diesen Branchen auf zwei offene Stellen nur ein Bewerber. Und von dem ist nicht einmal sicher, ob er auf den Job passt. „In diesen Bereichen des Arbeitsmarkts ist die Axt am Baum“, sagt Schairer trocken.

Gastro, Pflege, Handwerk: Sie alle sind betroffen

Neben dem Hotel- und Gaststättengewerbe, dem Pflegebereich, der Logistik und Teilen des Einzelhandels sei auch das Handwerk vom Fachkräftemangel überproportional betroffen. „Bei uns häufen sich die Stellengesuche für Hochbauer, Tiefbauer und Maurer“, sagt er. Alles, wo man körperlich zupacken müsse, stehe bei den Arbeitssuchenden tief im Kurs.

Da wolle fast keiner mehr hin, sagt der Teamleiter in der Arbeitsagentur. Nach einer aktuellen Erhebung des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) fehlten allein in der Bauwirtschaft im ersten Quartal 2022 deutschlandweit mehr als 190.000 Arbeitnehmer. Das sind fast vier Mal so viele wie im Jahr 2010.

Aber wo sind all die Fachkräfte hin? Immerhin können ja nicht alle in attraktivere Branchen abgewandert sein. Und steigt die Bevölkerung Deutschlands nicht gerade auch leicht?

„Auf dem Arbeitsmarkt kommen gerade sehr viele Faktoren zusammen“, sagt Florian Rochlitz, Mitglied der Geschäftsleitung bei der Personalberatung Hapeko und dort für Süddeutschland zuständig. Nach Ende der Wirtschafts- und Finanzkrise seien die exportstarken Branchen so stark gewachsen, dass das Fachkräfteangebot „schlicht nicht mehr mithalten konnte“.

Eine Mitarbeiterin eines Hotels streicht eine Bettdecke in einem Hotelzimmer glatt. Auch hier ist der Personalmangel spürbar.
Eine Mitarbeiterin eines Hotels streicht eine Bettdecke in einem Hotelzimmer glatt. Auch hier ist der Personalmangel spürbar. | Bild: Jan Woitas/dpa

Streng genommen gebe es gar keinen Fachkräftemangel in Deutschland, sondern eher einen Nachfrageüberschuss in einigen Branchen, vor allem in der Industrie. Daraus entstehe eine Art Sog, der Arbeitnehmer von anderswo dorthin abziehe. Firmen, die einen guten Ruf als Arbeitgeber haben, so wie der Caravan-Bauer Dethleffs aus dem Allgäu, bekomme die Lage noch in den Griff. Für alle anderen wird die Luft dünn.

Während der Corona-Krise sei der Arbeitsmarkt eingefroren gewesen, sagt Hapeko-Mann Rochlitz. Neueinstellungen seien zurückgestellt worden und Arbeitnehmer scheuten davor zurück, zu wechseln. Das ändere sich nun. Arbeitnehmer suchten neue Chancen, Arbeitgeber versuchten vermehrt einzustellen.

Keine Arbeitskräfte aus dem Ausland

Dass das immer schwerer wird, hat auch damit zu tun, dass die Mobilität des Faktors Arbeit durch die zwei Jahre währende Corona-Krise zurückgegangen ist. Machten sich vor der Pandemie noch jedes Jahr Zehntausende Erntehelfer oder Hilfsarbeiter von Süd- oder Osteuropa auf den Weg nach Deutschland, ist dieser Strom teilweise versiegt.

Und auch gut ausgebildete Experten aus dem Ausland entscheiden sich seltener, in Deutschland Arbeit aufzunehmen. „Corona hat die Fachkräftemobilität gebremst“, sagt Arbeitsagentur-Experte Schairer. „Und jetzt springt sie nicht mehr an.“

Auch ein lange bekannter Faktor führt aktuell dazu, dass Einzelhändler und Gasthöfe schließen, Freibäder ihre Öffnungszeiten einschränken, Flugzeuge am Boden bleiben müssen, Brücken nicht mehr gebaut werden können, Dorfkindergärten zusammengelegt werden und sogar über die Begrenzung der Besucherzahl im Europa-Park wegen Personalmangels berichtet wurde: die Demografie.

Das könnte Sie auch interessieren

All jene, die Deutschland über Jahrzehnte am Laufen gehalten haben, gehen gerade in Rente. Der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland war das Jahr 1964. Damals kamen knapp 1,4 Millionen Kinder zur Welt. Nach einem 40-jährigen Arbeitsleben scheiden sie demnächst aus dem Arbeitsmarkt aus. Als Folge werden Deutschland nach Berechnungen des Prognos-Instituts bis 2025 knapp drei Millionen Fachkräfte fehlen.

Allein im öffentlichen Sektor, der mit rund fünf Millionen Arbeitsnehmern der größte Arbeitgeber der Republik ist, wird sich bis Mitte des Jahrzehnts eine Lücke von 765.000 Arbeitskräften auftun, stellte die Beratungsgesellschaft PWC Anfang der Woche fest. „Es ist der helle Wahnsinn“, sagt Schairer. „Wir merken das jetzt überall.“

Für das deutsch-Schweizer Grenzgebiet kommt ein weiteres Problem hinzu. Hiesige Unternehmen konkurrierten um Fachkräfte mit Unternehmen aus der Schweiz, sagt Claudius Marx, Hauptgeschäftsführer der in Konstanz ansässigen IHK Hochrhein-Bodensee. Und jenseits des Rheins zahlten die Betriebe im Durchschnitt 30 Prozent mehr Gehalt. Als Folge fahren jeden Tag mehr als 57.000 Grenzpendler aus Baden-Württemberg in die Schweiz zum Arbeiten und stehen hiesigen Betrieben nicht mehr zur Verfügung.

Ein Salat-Teller wird in einem Restaurant serviert. Der Personalmangel im Gastgewerbe lässt sich nach Ansicht des Hotel- und ...
Ein Salat-Teller wird in einem Restaurant serviert. Der Personalmangel im Gastgewerbe lässt sich nach Ansicht des Hotel- und Gaststättenverbandes nicht durch ukrainische Flüchtlinge auffangen. | Bild: Jens Kalaene/dpa

Die Lücke mit Flüchtlingen aus der Ukraine aufzufüllen, hält Marx für illusorisch. Sie seien „nicht gekommen, um zu bleiben“, sondern wollten größtenteils so schnell wie möglich zurück in ihre Heimat.

Was also tun? Hapeko-Geschäftsführer Rochlitz glaubt, dass insbesondere in den Betrieben ein Sinneswandel einziehen muss. „Manche Unternehmen haben den Ernst der Lage noch nicht erkannt“, sagt er. Der Arbeitsmarkt sei „zu einem krassen Arbeitnehmerarbeitsmarkt geworden“. Anders ausgedrückt: Bei Bewerbungsgesprächen und Gehaltsverhandlungen bestimmen immer öfter die Job-Aspiranten die Bedingungen mit.

Das könnte Sie auch interessieren

Noch in den 2000er-Jahren war das undenkbar. Wer bei Bewerbungsgesprächen kleinlich sei und beispielsweise Gehaltsforderungen zu drücken versuche, obwohl sie innerhalb des Budgets lägen, habe als Arbeitgeber den Schuss schlicht nicht gehört, sagt Rochlitz.

Tatsächlich gehen viele Firmen bis an die Schmerzgrenze, um ihren Fachkräftebedarf zu sichern. IHK-Hauptgeschäftsführer Marx spricht von einer Vielzahl an Vorzügen, die die Unternehmen mittlerweile aufböten, um sich für Spezialisten aufzuhübschen – von Homeoffice über familienfreundliche Arbeitszeitmodelle, Weiterbildungs- und Gesundheitsangebote oder Laptops und Tablets für Azubis für den privaten Gebrauch.

Unternehmen bewerben sich bei Arbeitskräften

Wer es sich leisten kann, bietet mittlerweile Vermittlungsprämien für Arbeitskräfte, die sich mitunter im vierstelligen Bereich bewegen – sowohl für den Vermittler, als auch für den Jobeinsteiger.

Manche gehen sogar noch einen Schritt weiter und drehen den Spieß gleich ganz um. Statt auf Bewerbungen zu warten, bewerben sich manche Unternehmen direkt bei Ihren potenziellen Arbeitskräften. Mit einer digitalen Bewerbungsmappe, die unter anderem rund ein Dutzend Benefits für Mitarbeiter auflistet, rollen die Konstanzer Stadtwerke am Bodensee Nachwuchskräften den roten Teppich aus. Motto: „Schluss mit dem Bewerbungs-Blabla. Denn wir bewerben uns bei Ihnen!“

Fast schon traditionalistisch mutet da an, was Dethleffs-Marketing- und Kommunikations-Chef Bielesch zu dem Thema zu sagen hat. Die Quintessenz der Lage sei doch denkbar einfach, sagt er: „Sei nett zu deinen Mitarbeitern – zu denen, die du hast, und zu denen, die noch kommen sollen.“