Katastrophe, erschreckend, verantwortungslos: Diese Worte zeigen, wie betroffen die Bundestagsabgeordneten aus der Region auf den gescheiterten ersten Durchgang der Kanzlerwahl reagieren. Um 10.04 Uhr war es am Dienstag so weit, der letzte Abgeordnete hatte Platz genommen und die neue Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) konnte das Ergebnis verkünden. Ihrem Gesichtsausdruck ist da schon zu entnehmen, dass etwas nicht stimmt. Nachdem sie die Zahlen verlesen hat, herrscht Stille. Niemand jubelt oder feixt.
Später wird klar: Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits herumgesprochen, dass Friedrich Merz im ersten Wahlgang nicht genügend Stimmen bekommen würde. 18 Abgeordnete haben nicht für ihn votiert. Wer das ist, überhaupt aus welcher der beiden Fraktionen – das wird die Welt wohl niemals erfahren.
Thorsten Frei (CDU): „Merz hat Nerven wie Drahtseile“
Der angehende Kanzleramtsminister Thorsten Frei will sich im Interview mit der ARD nicht dazu äußern, nennt es eine „rückwärtsgewandte Debatte“. Offenbar soll kein weiteres böses Blut zwischen den künftigen Koalitionspartnern vergossen werden.
Vor dem zweiten Wahlgang gibt sich der Donaueschinger zuversichtlich, dass es klappt – auch ohne Stimmen der AfD. „Ich glaube, dass jeder weiß, um was es geht. Werden klares Ergebnis bekommen.“ Und wenn nicht? „Friedrich Merz hat Nerven wie Drahtseile“, sagt der Abgeordnete des Schwarzwald-Baar-Kreises. „Wir werden auf alle Fragen passende Antworten finden.“
Nach dem erfolgreichen zweiten Wahlgang blickt Frei dann nach vorn. Dem SÜDKURIER sagt er: „Mit Friedrich Merz als neuem Bundeskanzler wird von heute an ein neuer Kurs eingeschlagen.“ In Wirtschafts-, Sicherheits- und Migrationspolitik setze man alles daran voranzukommen. „Es ist unser Ziel, schnell die ersten Ergebnisse zu liefern, die auch spürbar sind. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Andreas Jung (CDU): „Europa wartet auf Deutschland“
Der Konstanzer CDU-Bundestagsabgeordnete hatte mit diesem ersten Wahlgang nicht gerechnet. Zumindest in seiner eigenen Fraktion registrierte Andreas Jung beim morgendlichen „Zählappell“ in der Fraktionssitzung von CDU/CSU gute Stimmung und große Geschlossenheit. „Alle waren in der Erwartung, dass es nun losgeht.“
Und dann das! „So ist Demokratie“, sagt Jung am Mittag, noch bevor man sich darauf einigen kann, dass am Nachmittag erneut abgestimmt wird. Jung ist sehr dafür: „Wichtig ist jetzt, dass es keine Hängepartie gibt“, sagt er dem SÜDKURIER. Jeder müsse wissen, was auf dem Spiel stehe.
„Die Populisten freuen sich. Die AfD hat mit Häme reagiert. Es geht um das, was in der Überschrift des Koalitionsvertrags steht: Verantwortung für Deutschland“, so Jung an die Adresse der Abweichler. Und auch die Verantwortung für Europa steht nach Jungs Ansicht auf dem Spiel: „Europa wartet auf uns – sogar ganz körperlich: Emmanuel Macron und Donald Tusk erwarten Friedrich Merz ja eigentlich schon morgen zu Gesprächen.“
Als nachhaltig beschädigt sieht Jung Merz nicht. Nach dessen Wahl im zweiten Wahlgang werde nächste Woche schon keiner mehr danach fragen. Jung erinnert daran, dass es Baden-Württembergs langjährigem Ministerpräsidenten Erwin Teufel 1996 auch passiert sei. Merz erlebt Jung als äußerst widerstandsfähig: „Er kann das abschütteln, als Profi nimmt er das nicht persönlich.“ Die Stabilität der künftigen Regierung sieht Jung ausdrücklich nicht gefährdet. „Schließlich haben wir den Koalitionsvertrag als gemeinsame Grundlage und während der Verhandlungen ist Vertrauen gewachsen.“
Lina Seitzl (SPD): „Wir sind weiterhin eine stabile Demokratie“
„Ich bin erschüttert“, sagt die Konstanzer SPD-Abgeordnete Lina Seitzl nach dem ersten Wahlgang. „Für Vertrauen in die neue Regierung und Stabilität im Land ist das kein guter Start.“ Sie könne sich nicht vorstellen, dass die Abweichler aus ihrer Fraktion kommen. Erst am Vorabend habe sich Friedrich Merz den SPD-Abgeordneten vorgestellt und sei warm willkommen geheißen worden, berichtet Seitzl dem SÜDKURIER.
„Das Mitgliedervotum ist ein Auftrag für uns. Jeder kennt den Ernst der Lage.“ Das Votum der Parteimitglieder war deutlich mit fast 85 Prozent Zustimmung für den Koalitionsvertrag mit der Union ausgefallen, es hatte allerdings nur etwas mehr als die Hälfte der 358.000 Parteimitglieder abgestimmt. Trotz der hörbaren Bestürzung ist Seitzl sicher: „Wir sind weiterhin eine stabile Demokratie. Wir müssen das bleiben, während Europa bröckelt.“
Derya Türk-Nachbaur (SPD): „Das ist kein guter Start“
Auch für ihre Parteifreundin Derya Türk-Nachbaur aus dem Schwarzwald-Barr-Kreis kam das Ergebnis „völlig unerwartet“. Sie habe mit ausgezählt und wusste also vorher, was kommen würde. Dennoch: „Ich bin geschockt. Das ist kein guter Start“, so die Abgeordnete gegenüber dem SÜDKURIER. Den Moment der Ergebnisverkündung beschreibt sie als bedrückend. „Ich hoffe, dass diejenigen, die mit Nein gestimmt haben, in sich gehen.“
Auch sie hat aber keine Zweifel an der Geschlossenheit der eigenen Fraktion. „Natürlich gab es bei uns einige kritische Stimmen in den vergangenen Wochen. Es wurde aber mit allen geredet – ich kann mir nicht vorstellen, dass es von denen jemand war“, sagt Türk-Nachbaur. Trotz des schlechten Starts sieht sie keinen dauerhaften Schaden, „da ist noch einiges zu heilen.“
Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): „Nicht den geringsten Anhaltspunkt“
Rita Schwarzelühr-Sutter, die eigentlich schon am Dienstag zur Parlamentarischen Staatssekretärin im Umweltministerium ernannt werden sollte, will jeden Verdacht von ihrer Partei, der SPD, fernhalten. Sie sehe „nicht den geringsten Anhaltspunkt zu glauben, dass unsere Fraktion nicht geschlossen abgestimmt hat“, lässt die Waldshuterin den SÜDKURIER wissen.
„Für uns Sozialdemokraten bleibt klar: Demokratie lebt von Haltung, Verantwortung und Stabilität. Dieser Verantwortung sind wir uns in der SPD-Bundestagsfraktion alle bewusst.“ Deutschland brauche jetzt Verlässlichkeit und eine handlungsfähige Regierung. „Die Herausforderungen – innenpolitisch wie international – dulden kein Taktieren.“
Volker Mayer-Lay (CDU): „Wir stehen vor einem gewissen Desaster“
Der CDU-Abgeordnete Volker Mayer-Lay aus dem Bodenseekreis sagt: „Wir stehen vor einem gewissen Desaster.“ Bei der dünnen Mehrheit – sie zählt nur 12 Abgeordnete – habe man damit rechnen müssen, so Mayer-Ley. Es beschädige Merz und die Koalition von Anfang an. „Die Hängepartie ist ein Schaden fürs Land, von dem die Extremen, vor allem die AfD, profitieren.“ Auch er weiß, dass es immer Unzufriedene gibt, die solche Gelegenheiten vielleicht nutzen, um ihren Unmut kundzutun. „In dieser Lage disqualifiziert man sich damit aber ein Stück weit für den Bundestag“, sagt der Überlinger dem SÜDKURIER.
In der Unionsfraktion sei im Vorhinein die Anwesenheit der Abgeordneten geprüft worden, da habe er Zusammenhalt gespürt. Solche Anwesenheitskontrollen sind vor wichtigen Abstimmungen üblich, um überraschende Ergebnisse zu vermeiden – die Abgeordneten sind trotz Absprachen und Fraktionszwang am Ende nur ihrem Gewissen verpflichtet. Mayer-Ley wüsste aber nicht, wer aus der Union gegen Merz gestimmt haben sollte.
Felix Schreiner (CDU): „In Südbaden sagen wir, am Ende wird alles gut“
Der Waldshuter Bundestagsabgeordnete Felix Schreiner (CDU) ist auch nach dem erfolgreichen zweiten Wahlgang am späten Nachmittag noch „sichtlich bewegt und berührt“, sagt er dem SÜDKURIER: „Ich war geschockt vom Ergebnis im ersten Wahlgang. Natürlich habe ich Friedrich Merz gewählt.“ Die Abweichler seien ihrer Verantwortung für das Land und die Welt nicht gerecht geworden, so Schreiner. Viele Freunde aus seinem Wahlkreis, aber auch aus Europa hätten ihm geschrieben: Was passiert da in Deutschland? „Viele sind besorgt, und ich war das auch.“ Aber, meint Schreiner: „In Südbaden sagen wir, am Ende wird alles gut.“
Was bedeutet das nun für die künftige Zusammenarbeit? Nicht nur das Kabinett will schließlich vertrauensvoll zusammenarbeiten. Es sind die Fraktionen der beiden Regierungsparteien, die über die Gesetzesvorhaben abstimmen müssen – deren Geschlossenheit nun aber in Zweifel steht. „Wir haben einen Koalitionsvertrag und der ist gut und gültig“, sagt Schreiner.
Und Volker Mayer-Lay: „Nach einem rauen Wahlkampf saß man einige Wochen in den Koalitionsverhandlungen zusammen und hat Vertrauen aufgebaut. Scheinbar ist das nicht bis in die Tiefe der Fraktionen vorgedrungen.“ Das gelte nicht in der Breite, da sei Vertrauen zu spüren. „Aber da sind jetzt Baustellen.“ Mit dem Erfolg im zweiten Wahlgang gibt es nun auch die Chance, sie anzugehen.