Es ist ein Moment, den niemand erleben will: Zwei Todkranke werden ins Krankenhaus eingeliefert, sie müssen auf die Intensivstation – doch dort gibt es nur noch ein freies Bett. Und in einem weiteren liegt ein Patient, ohne Aussicht auf Besserung.
Wie sollen Ärzte entscheiden? Und wer garantiert, dass alte, chronisch kranke und behinderte Menschen nicht benachteiligt werden? Eigentlich das neue Triage-Gesetz – zumindest was Corona angeht.
Behindertenverbände hatten das gefordert, da sie Benachteiligungen fürchteten. Das einzig entscheidende Kriterium nun: Die aktuelle und kurzfristige Lebenserwartung der Betroffenen, nicht die langfristige. Ist ein behinderter Mensch betroffen, müssen Ärzte entsprechende Experten in die Entscheidung mit einbeziehen.
Zudem ist die Ex-Post-Triage, also das Beenden einer vermeintlich aussichtslosen Behandlung zugunsten eines neuen Patienten mit besseren Überlebenschancen, verboten. Doch Kritik gibt es auch am neuen Gesetz – von Ärzten und von behinderten Menschen.
Die Angst, aussortiert zu werden
Laut Jutta Pagel-Steidl, Geschäftsführerin des Landesverbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung, schaffe das neue Gesetz zwar juristische Regeln, um Behinderte zu schützen. „Allerdings bleibt trotzdem die Sorge, aussortiert zu werden“, sagt sie. Denn im Gesundheitswesen gebe es bereits zu normalen Zeiten eine strukturelle Diskriminierung.

Corinna Mader kennt diese Angst. Die 40-Jährige aus Weingarten ist selbst behindert, sie sitzt von Geburt an im Rollstuhl wegen einer infantilen Zerebralparese – einer Art Schlaganfall bei der Geburt. „Ich hätte Angst davor, wenn ich jetzt wegen Corona ins Krankenhaus müsste“, sagt sie. Mit 18 Jahren musste sie wegen Pfeifferschem Drüsenfieber in eine Klinik – eine für ihre Bedürfnisse adäquate Betreuung sei nur auf der Kinderstation möglich gewesen.
Rollstuhlfahrerin würde nicht alleine ins Krankenhaus gehen
Für den zusätzlichen Betreuungsaufwand von Menschen mit Behinderung würden die Kapazitäten in Kliniken oft nicht ausreichen. Sie nehme daher immer Angehörige mit ins Krankenhaus, damit jemand Dinge regeln und sie im Notfall versorgen kann. „Alleine traue ich mich nicht“, sagt sie.
Zudem hat Mader lange in der Behindertenhilfe gearbeitet. Sie habe dort von vielen schlechten Erfahrungen gehört. Manchmal bekämen Menschen mit Behinderung unbeabsichtigt weniger zu essen, weil das Esseneingeben so aufwendig sei. Das schwäche Patienten und könne damit die Entscheidung bei der Triage beeinflussen. „Auch das neue Gesetz ist kein Garant“, findet Mader.
Intensivmediziner: „Dieses Gesetz ist der falsche Weg“
Andrej Michalsen kann die Besorgnis grundsätzlich nachvollziehen. Er ist Oberarzt am Klinikum Konstanz für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie. Er ist mit dem Thema vertraut – aus mehreren Perspektiven. Seit 25 Jahren beschäftigt er sich mit klinischer Ethik, hat ein Buch dazu veröffentlicht. „Aber dieses Gesetz ist der falsche Weg“, sagt der Mediziner.

Aus seiner Sicht hätte es überhaupt keines gebraucht. Vor der Pandemie sei die Lage sehr klar gewesen, lebenserhaltende Behandlungen wurden eingestellt, wenn sie nicht mehr medizinisch sinnvoll oder vom Patienten gewünscht waren.
In der Pandemie wurden die Ressourcen knapp – die Fachgesellschaften formulierten Leitlinien. „Die haben ausgereicht. Sie waren transparent und medizinisch fair“, sagt Michalsen. Juristisch bindend waren sie nicht.
Der Intensivmediziner hätte sich wenn dann ein Gesetz gewünscht, dass Ärzte, die solch schwierige Entscheidungen treffen müssen, absichert. „Stattdessen werden wir jetzt im Zweifelsfall kriminalisiert, vor allem bei der Ex-Post-Triage“. Die ist nun verboten – Michalsens Hauptkritikpunkt am neuen Gesetz.
Kostet das Verbot der Ex-Post-Triage Menschenleben?
Seine Begründung: Die Prognose von Patienten sei oft erst einmal unklar, man behandle intensiv, um Zeit und Klarheit zu gewinnen. Oft stelle sich heraus, dass die Chancen schlechter sind als zuerst gehofft, die Maßnahmen haben keinen weiteren Sinn.
„Jetzt sind wir aber gezwungen, einen Patienten immer weiter zu behandeln, selbst wenn es medizinisch keinen Sinn mehr hat und selbst wenn plötzlich ein weiterer Patient eingeliefert wird, der dringend diesen Intensivplatz bräuchte und deutlich bessere Chancen auf ein akutes Überleben hat“, erklärt Michalsen.
Intensivplätze würden dadurch zur Lotterie, wer das Glück hat, näher an der Klinik zu wohnen oder früher zu erkranken, sei im Vorteil. Medizinische Überlebenschancen würden irrelevant. „Bei einer endlichen Anzahl an Behandlungsplätzen, wird dieses Verbot der Ex-Post-Triage Menschenleben kosten. Das wird auch behinderte und ältere Menschen treffen. Das Gesetz hilft damit niemandem“, urteilt er.
Arzt: Hinzuziehen von Behindertenvertreten nicht möglich
Ein weiteres Problem für ihn: Dass nun Nicht-Mediziner bei Triage-Entscheidungen hinzugezogen werden müssen, zum Beispiel Vertreter von Behindertenverbänden. „Das bewerte ich kritisch.“
Er dürfe ohnehin keine Ratschläge von einem Nicht-Arzt annehmen, das sei unprofessionell. Wenn er das Gefühl habe, ihm fehle Expertise bei einer bestimmten Behinderung, dann hole er sich selbst Rat ein. „Dafür braucht es kein Gesetz“, führt der Konstanzer Arzt aus.
Das Mehraugenprinzip sei in den bisherigen Leitlinien ohnehin empfohlen worden, es juristisch vorzugeben, sei aber im Klinikalltag nicht praktikabel. Denn die Regelung führe dazu, dass bei Mehrfachbehinderungen mehrere Experten hinzu geholt werden müssten.
„Bei einer schnellen Entscheidung nachts um 4 Uhr erreicht man niemanden mehr“, berichtet er. Und konsequent zu Ende gedacht, müsse man dann auch Experten für kulturelle Herkunft oder soziale Schicht hinzuziehen, was nicht immer machbar sei.
Im Zweifel würden kritische Entscheidungen aus Angst vor juristischen Folgen durch das Gesetz verzögert – auf Kosten von Menschenleben. Sein Urteil: „Diese Vorgabe ist weder medizinisch notwendig noch im Alltag durchführbar.“
Was ist mit Begleiterkrankungen von Behinderungen?
Jutta Pagel-Steidl hat eine andere Sorge: Dass das Kriterium „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ im Notfall nur unzureichend eingeschätzt werde bei Menschen mit Behinderungen.
Auch die betroffene Corinna Mader sagt, es sei ein Problem, dass viele Behinderungen mit Begleiterscheinungen einhergehen, zum Beispiel haben viele Patienten mit Muskelkrankheiten Atemprobleme. „Wenn das die Chancen bei der Triage senkt, macht mir das Angst. Man ist schnell bei der Frage: Welches Leben ist wie viel wert?“
Notfallmediziner Andrej Michalsen sagt: „Natürlich darf eine Behinderung nicht zur Benachteiligung führen – aber eben auch nicht zur Bevorzugung. Ich muss alle gleich behandeln und nur die Überlebenswahrscheinlichkeit beachten. Und wenn diese durch eine Begleiterkrankung einer Behinderung oder das Alter gemindert ist, dann muss ich das berücksichtigen dürfen.“ Wie soll es nun weitergehen?
Gibt es eine Alternative zum Triage-Gesetz?
Jutta Pagel-Steidl kennt keine bessere Alternative. Doch es brauche eine breite Debatte unter Beteiligung von Menschen mit Behinderung. „Wir brauchen einen wirksamen Schutz vor Benachteiligungen bei allen Notlagen, also beispielsweise auch bei Hochwasser oder schweren Unfällen.“ Sie wolle eine Triage-Gesetzgebung für alle Notfälle.
Genau diesen Fall fürchtet jedoch Intensivmediziner Andrej Michalsen am meisten. Wenn dieses Gesetz allgemeingültig würde, würde es auf eine Weise in seine ärztliche Berufsfreiheit eingreifen, die er nicht tolerieren könnte. „Wir Ärzte werden uns dagegen wehren, weil es unsere Arbeit teilweise unmöglich macht“, sagt er.