So ganz zuhause fühlt sich Katja Schantl noch nicht. Sie blickt aus dem Fenster ihrer Souterrainwohnung, vor der gerade ein Zug vorbeigefahren ist. Gleich wird er im Allensbacher Bahnhof eintreffen. Seit Juli wohnt Schantl hier.
Sie hätte gerne in Konstanz eine Wohnung gefunden. Doch sie hat eine körperlichen Behinderung. Eine Wohnungssuche in der Konzilstadt wird damit noch schwieriger als sie sowieso schon ist. Dabei ist diese Erschwernis nicht nur für direkt Betroffene relevant.
Drei Schlaganfälle in jungen Jahren
Im Alter von 26 Jahren hat Schantl ihren ersten Schlaganfall. Mit 28 den zweiten, mit 34 den dritten. Seitdem lebt sie mit einer Gehbehinderung und einer Autoimmunerkrankung. Außerdem kann sie ihren linken Arm nicht richtig bewegen. „Das waren keine normalen Schlaganfälle,“ erklärt sie, „sondern eher Entzündungen im Kopf.“ Sie sitzt ein halbes Jahr im Rollstuhl. „Ich habe mich mühsam wieder herausgekämpft“.

Vom Kämpfen spricht die 49-Jährige viel. „Wir körperlich eingeschränkten Menschen sind Alltagshelden, weil wir jeden Tag so viel Kraft und Energie aufwenden“, sagt sie ruhig, aber mit fester Stimme.
An den Bodensee zieht die Ludwigsburgerin vor neun Jahren, um von der Familie unterstützt zu werden: Ein Bruder lebt in Konstanz, ein anderer hinter der Schweizer Grenze. Sie zieht nach Hegne, doch die Wohnung im Dachgeschoss ist für sie nicht optimal: viele Treppen, kein Aufzug. „Die ganzen Einkäufe hochschleppen, das war ein Problem. Der Alltag war sehr mühsam für mich.“
„Natürlich habe ich mich total überfordert“
Sie wohnt trotzdem gerne dort, versucht, selbständig zu sein. „Ich wollte allein putzen, allein einkaufen. Und natürlich habe ich mich total überfordert“, gibt Schantl zu. Vergangenes Jahr bricht sie sich zum zweiten Mal den Fuß und beschließt, eine passendere Wohnung zu finden. Eine mühsame Suche beginnt.
Wie Katja Schantl geht es einigen Menschen mit Behinderung. „In Konstanz sind viele Leute praktisch in ihren Wohnungen gefangen, weil sie keine andere adäquate Wohnung finden“, sagt Stephan Grumbt, Behindertenbeauftragter der Stadt Konstanz.
„Wir leben hier in einer historischen Stadt mit vielen Altbauwohnungen im klassischen Hochparterre.“ Je nach körperlicher Einschränkung habe man dort schon Schwierigkeiten, in die Wohnung zukommen. „Wenn man dann drin ist, hat man unter Umständen Stufen oder Schwellen zwischen Räumen“, sagt Grumbt, der selbst auf den Rollstuhl angewiesen ist.

Katja Schantl wäre dennoch gerne nach Konstanz gezogen. „In der Stadt hätte ich es einfacher“, sagt sie. Kürzere Wege, Einkaufsmöglichkeiten vor der Tür, eine bessere Verkehrsanbindung. Sie besichtigt rund 20 Wohnungen. Sie meldet sich bei der Wobak an. Doch als Nicht-Konstanzerin mit ihren speziellen Anforderungen habe sie keine großen Chancen bei der Wohnbaugesellschaft gehabt, sagt sie.
Zwar versucht diese, „entsprechenden Personengruppen im Rahmen unserer Möglichkeiten bevorzugt ein Tausch- bzw. Wohnungsangebot zu machen“, teilt Thomas Fröhlich , Leiter der Wobak-Hausverwaltung dem SÜDKURIER mit. Aber auf der Liste mit knapp 2800 Bewerbern stünden aktuell 175 Schwerbehinderte, 22 Rollstuhlfahrer und 320 Bewerber, die allgemeine „gesundheitliche Gründe“ angeben.
Behindertenbeauftragter fordert Umdenken
Diese Zahlen zeigen, dass das Bedürfnis nach barrierefreien und behindertengerechten Wohnungen keine Randerscheinung ist; laut Stephan Grumbt sollte es sogar als ein Teil der Normalität gesehen werden. „Es ist traurig, aber wir Menschen mit Behinderung rutschen immer wieder in den Hintergrund.“ Dabei gehe barrierefreies und behindertengerechtes Wohnen alle etwas an. „Jedem kann in jeder Sekunde sowas passieren.“
Nicht nur ältere Menschen – von denen es in Konstanz immer mehr gibt -, sondern auch junge Leute können betroffen sein. Deshalb fordert Grumbt ein Umdenken in der Bevölkerung: „Man schiebt es immer noch weit von sich und dann passiert was und man sitzt in einer tollen Wohnung, die absolut unnutzbar ist, wenn man sich nicht mehr bewegen kann.“
Grundsätzlich unterscheidet man beim Wohnungsbau zwei verschiedene Standards nach der DIN-Norm: Barrierefrei nutzbare Wohnungen und den höheren Standard barrierefrei und uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbare Wohnungen. So sind barrierefreie Türen beispielsweise 80 Zentimeter breit, rollstuhlgerechte dagegen 90.
Behindertengerechter Umbau „mit hohem Aufwand“
Bei Neubauprojekten muss gemäß der Landesbauordnung ein Teil der Wohnungen als barrierefrei und rollstuhlgerecht gebaut werden. „Wohnungen im Bestand“, erklärt Thomas Gerwatowski, technischer Leiter bei der Wobak, „können einzig mit hohem Aufwand in behindertengerechte Wohnungen umgebaut werden“. Die Rollstuhlgerechtigkeit mache Vorgaben zu Flächenbedarfen, die eine komplette Umplanung von Grundrissen mit sich bringe.
Einmal, erzählt Katja Schantl, habe sie die ideale Wohnung in Konstanz besichtigt. „Die hatte alles: Aufzug im Haus, mein Hausarzt gleich daneben, ein netter Vermieter, Einkaufsmöglichkeit und Bus vor der Nase.“ Doch die Miete von 1100 Euro – für sie nicht bezahlbar. Schantl ist mit 26 Jahren berentet worden. Arbeiten kann sie nicht, dafür sind ihre Konzentration und Belastbarkeit seit dem ersten Schlaganfall nicht mehr hoch genug.
Für Wohngeld ist ihre Rente wiederum ein bisschen zu hoch. „Wenn mein Bruder mich nicht finanziell unterstützen würde, könnte mir das Leben hier gar nicht leisten mit meiner Rente“, sagt sie. „Die Region ist im Prinzip viel zu teuer für mich.“
Sortieren Vermieter Menschen mit Behinderung aus?
Schantl hat deshalb auch Diskriminierung erlebt. Weil sie berentet ist, weil sie besondere Anforderungen hat – und beides bei Bewerbungen ehrlich zugibt. „Viele Vermieter haben mich deswegen vielleicht gleich aussortiert“, vermutet sie. „Also ich bin gar nicht in die engere Auswahl gekommen.“
Laut Stephan Grumbt seien viele Vermieter und Eigentümer verunsichert, wie sie mit Menschen mit Behinderung als Mieter umgehen müssten. Hinzu komme, dass viele Betroffene je nach körperlicher Einschränkung individuelle Anpassungen brauchen, zum Beispiel spezielle Griffe im Bad.
Das sei den meisten Eigentümern, solange sie selbst nicht betroffen sind, zu teuer. Für solche Umbauten, sagt der Behindertenbeauftragte, gebe es allerdings auch gesetzliche Ansprüche für Unterstützung über die Pflegekasse oder die Krankenversicherung. Und bei einer Behinderung durch einen Arbeitsunfall gebe es zudem oftmals die Möglichkeit, dass die Berufsgenossenschaft Zuschüsse für einen Wohnungsumbau zahle, ergänzt Klaus Mayer von der Stabstelle Arbeitssicherheit der Stadt Konstanz.
Ihre jetzige Wohnung in Allensbach hat Katja Schantl über eine Bekannte vermittelt bekommen. Sie entspricht Schantls Anforderungen: Waschmaschine im Bad, nicht mehr im Keller, keine Treppenstufen mehr. Und auch wenn es sich dort für sie manchmal zu eng anfühlt, merkt sie schon, dass sie sich bald an ihr neues Zuhause gewöhnt hat.
„Die Wohnsituation annehmen – das ist das Wichtigste“
Letztens hat sie mit einer Freundin telefoniert. „Die hat mich so zum Nachdenken gebracht. Sie meinte, wenn ich mich über den Zug vor dem Fenster aufrege, dann fährt er trotzdem“, erklärt sie und ein Kichern bricht aus ihr heraus. „Ich kann es nicht ändern, sondern sollte mich damit anfreunden.“ Das habe einen inneren Schalter umgelegt.
Schantl will raus aus der Opferrolle, nicht mehr passiv, sondern aktiv leben. „Die Wohnsituation annehmen – das ist das Wichtigste“, sagt sie. „Ich habe mir die Behinderung ja nicht ausgesucht.“ Und das Rattern des Zuges vor ihrem Fenster wird sie irgendwann nicht mehr wahrnehmen.