Karin hatte schon im Jugendalter das Gefühl, dass mit ihr irgendwas nicht stimmte, als sie Dinge erregend fand, die andere eher als verstörend empfinden. Sie schaute einen Porno, in dem eine Frau ausgepeitscht wurde, und mochte es. "Es ist schwierig, zu erklären, warum das so war. Es war halt irgendwie in mir“, erzählt sie.
Auch Jochen schämte sich für sein Empfinden und versuchte anfangs seine Lust an der Macht zu verdrängen. Das Verlagen kam trotzdem immer wieder. Auch bei Karin: „Ich hatte damit anfangs große Probleme.“

Sexualwissenschaftlerin Kirstin Linnemann ist Lehrbeauftragte an der Dualen Hochschule Villingen-Schwenningen. Sie fokussiert sich bei ihrer Forschung auf BDSM und weiß, dass viele schockiert sind, wenn sie zum ersten Mal merken, dass sie einen Fetisch entwickeln: „Sie wollen verzweifelt wissen: Warum ich?“
Dabei sei es völlig normal, eine gesellschaftlich nicht konforme sexuelle Neigung zu haben.

Dirk, Karin, Angelika und Jochen (Namen geändert) stehen auf BDSM. Und sie gewähren dem SÜDKURIER Einblicke, die sie ihrer Familie, ihren Freunden nicht offenbaren würden. Deshalb möchten sie in diesem Artikel unerkannt bleiben.
Jochen und Angelika leben an der deutsch-schweizerischen Grenze. Auf einem großen Holztisch im Wohnzimmer liegen Peitschen, Handschellen, Seile und Augenbinden in den verschiedensten Variantionen.
Wieso sich ein Fetisch entwickelt, ist bisher nicht ganz klar
Jochen ist stolz auf seine Sammlung. Und er legt Wert auf Qualität. „Die hier zum Beispiel ist besonders hochwertig und von Hand gemacht“, sagt er. In seinen Händen hält Jochen eine dunkelbraune Peitsche aus Känguruleder. Dann steht er auf, geht auf Sicherheitsabstand und schwingt sie mit Überschallgeschwindigkeit durch die Luft – wie ein Cowboy mit seinem Lasso auf Bullenjagd in der Prärie.

Sexualwissenschaftler erforschen, wieso sich ein Fetisch entwickelt. Innerhalb der Forschung konnte das bisher nicht einstimmig beantwortet werden. Denn Erkenntnisse sind rar.
Sexualwissenschaftlerin Kirstin Linnemann fokussiert sich bei ihrer Forschung auf BDSM und spricht von der sogenannten „Lovemap“, einer individuellen Liebeskarte, die sich unter anderem durch Begegnungen und Erfahrungen innerhalb von Beziehungen oder auch durch Medien entwickelt.
Häufig beschreiben Fetischisten, dass sie ihre Neigung bereits das ganze Leben haben und sich auch nicht vorstellen können, dass sich daran etwas ändert. „Aber es können natürlich immer wieder neue hinzukommen“, sagt Linnemann. Sie beobachtet immer häufiger, dass viele Frauen und Männer über 30 noch einen Hang zu Fesselspielen, Macht und Unterwerfung entwickeln.
Lange glaubte man, dass Gewalt oder Missbrauch im Kindesalter dazu führen, dass sich eine Vorliebe für Sadomaso entwickelt. Die Neigung wurde „pathologisiert“, wie Linnemann es nennt. Wer Schmerz mit Sex verband, wurde als krank angesehen.
Diese These ist heute widerlegt. Eine Studie, die Linnemann mit 2000 BDSM-Aktiven durchführte, untermauert das. Nur drei der 2000 Befragten gaben an, dass sie im Kindesalter Gewalt erfuhren.
Macht- und Fesselspiele sind für viele immer noch ein Tabu
Seit den 1980er-Jahren werden Debatten in der Öffentlichkeit geführt, die BDSM legitimieren. Dennoch haben die Vorstellungen von früher Auswirkungen bis in die Gegenwart: Viele finden Macht- und Fesselspiele immer noch befremdlich. Und das, obwohl sich die Gesellschaft mit Formaten im Privatfernsehen, Büchern und Filmen wie Shades of Grey oder Pornokonsum laut Linnemann weiterentwickelt hat.
Wenn es nach Angelika und Jochen geht, ist unsere Gesellschaft noch nicht weit genug. Beide verheimlichen vor ihrer Familie, dass sie sich hinter verschlossenen Schlafzimmertüren fesseln. Besonders weil Angelika täglich mit Kindern und Jugendlichen arbeitet. „Wenn die das wüssten, würde ich wahrscheinlich meine Autorität verlieren“, sagt sie.

Wer glaubt, dass die beiden Paare aus der Bodenseeregion ihre Fessel- und Machtspiele unbedingt brauchen, um sexuell erregt zu werden, irrt sich. Sie haben auch „normalen“ Sex. „Unsere Spiele sind erotisch. Und sie befriedigen uns. Aber wir haben auch Blümchensex“, sagt Angelika und lächelt dabei verschmitzt zu Jochen hinüber.
Ein Stammtisch ermöglicht den Austausch mit Gleichgesinnten
Dennoch offenbaren sie ihre Vorlieben vor anderen nur an einem Ort: einem Stammtisch. Dort haben sich die vier kennen- und schätzen gelernt. Dort tauschen sie sich mit Gleichgesinnten aus. Dort können sie vor anderen sie selbst sein.
Der Stammtisch nennt sich Schwarze Rose – Der lockere Treff für BDSM-Fetisch-Bondage in Konstanz, Radolfzell, Singen, Kreuzlingen, Bodensee. „Jeder, der interessiert ist, kann vorbeikommen. Vor allem am Anfang kann so eine Plattform enorm helfen“, sagt Karin.
Das sieht Sexualwissenschaftlerin Kirstin Linnemann ähnlich. „Man sollte sich mit diesem Thema beschäftigen. Und da kann so ein Stammtisch schon sehr hilfreich sein. Alle da draußen sollten wissen: Ihr seid nicht allein.“