Der Weg zurück in den Alltag, das ist für Menschen nach oder mit einer schweren Erkrankung wohl immer eine große Herausforderung. Was oft übersehen wird: Der „Alltag“ eines Menschen ist mehr als Treppensteigen, die Nahrungsaufnahme oder das Autofahren, denn auch die Sexualität spielt eine wichtige Rolle. Dieser Aspekt sollte allerdings noch wesentlich regelmäßiger zur Sprache kommen, denn die Informationsangebote sind oftmals eher rar und das Schamgefühl verhältnismäßig groß.
Sexualität gehört zum Alltag
„Dafür gibt es aber überhaupt keinen Grund“, lautet die klare Botschaft von Veronika Riesterer-Nahdi. Sie ist seit 30 Jahren Krankenpflegerin und berät seit rund acht Jahren gemeinsam mit zwei Kolleginnen Menschen im Patienten-Informations-Zentrum (PIZ) des Universitäts-Herzzentrums Bad Krozingen, einem pflegegestützten niederschwelligen Beratungsangebot für alle Fragen, die Patienten und ihre Angehörigen beschäftigen. Eine kostenlose Serviceleistung, in dieser Form einzigartig in Südbaden. „Wir geben nicht einfach einen bunten Strauß an Infomaterial heraus, sondern gehen auf die individuellen Bedürfnisse unserer Patienten ein.“ Das können Erklärungen zu einem Arztbrief sein, aber eben auch Fragen rund ums Liebesleben mit oder nach einer Herz-Kreislauferkrankung.
„Es ist ein wichtiges Thema, denn hier gibt es natürlich immer wieder Unsicherheiten.“Veronika Riesterer-Nahdi, PIZ Universitäts-Herzzentrum Bad Krozingen
Einerseits seien da die Patienten selbst, die Schwierigkeiten haben – sei es aus Angst vor Überbelastung oder Erektionsprobleme als Nebenwirkung von Medikamenten – andererseits auch deren Partner, die besorgt sind.
Krankheiten, die der Lust im Wege stehen, die Sexualität einschränken, oder gar verhindern sind häufig. Rund 40 Prozent der Männer und Frauen geben Beschwerden im sexuellen Bereich an. Allerdings haben nicht alle einen Leidensdruck. Die promovierte Medizinerin Daniela Wetzel-Richter ist Leitende Oberärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in den Kreiskliniken des Landkreises Lörrach und als Sexualmedizinerin auf diesem Gebiet eine echte Expertin, da sie seit Jahren als Dozentin für Sexualmedizin engagiert ist.

Sie ist überzeugt: „Wir betrachten den Patienten ganzheitlich, also nicht nur die Symptome und die Erkrankung isoliert, sondern unter Berücksichtigung der persönlichen Situation. Und dazu gehört selbstverständlich auch das Sexualleben.“
Kleine Maßnahme – große Wirkung
Die Bandbreite denkbarer Problematiken ist groß: Das reicht von Luststörungen aufgrund von psychischen Erkrankungen wie beispielsweise Depressionen oder Traumafolgestörungen, über den Körper verändernde Eingriffe, wie beispielsweise Krebsoperationen, Extremsituationen mit Todesangst, wie beim Erleben eines Herzinfarkts, chronischen Krankheiten bis hin zu körperlichen Auswirkungen psychischer Belastungen in Sinne der sogenannten Somatisierung. Hier spricht der Körper durch Symptome wie Schmerz und Verkrampfung.
Wie wichtig das Thema Sexualität für Patienten aller Altersgruppen sein kann, wird an einem Beispiel deutlich, das Wetzel-Richter beschreibt: Ein junger attraktiver Mann, Anfang 30, seit Jugend Diabetiker und Single, war vor einiger Zeit in der Klinik für Psychosomatik in Lörrach in Behandlung. „Er kam wegen einer Depression. Uns wunderte, dass er in seinem Leben noch nie eine Partnerschaft gehabt hatte.“ Die Sexualmedizinerin bot dem Patienten daher ein Gespräch über Sexualität an, was er gerne annahm. Sie erfuhr, dass er seit vielen Jahren an Erektionsstörungen leide und deshalb Angst vor der Partnersuche habe, obwohl der Wunsch nach einer Beziehung groß sei. Was dann geschah? „Das Problem des Mannes war mit einer Anpassung der Medikation gelöst. Er war darüber sehr glücklich, dass er wieder ‚funktionierte‘. Wir konnten ihn motivieren und unterstützen, seinen Wunsch nach einer Partnerschaft anzugehen“, erläutert die Oberärztin.

Erfahrungen wie diese hat auch Veronika Riesterer-Nahdi im PIZ in Bad Krozingen gemacht. Sie versichert: „Jeder kann sich bei uns melden und wird individuell und seinen Bedürfnissen entsprechend beraten.“ Manchmal, aber nicht immer, kommen Fragen zur Sexualität noch während des Klinikaufenthalts, manchmal auch erst einige Zeit später: „Manche Patienten beraten wir einmalig, andere begleiten wir noch über einen längeren Zeitraum. Das ist ganz individuell.“ Sieben bis zehn Beratungsgespräche am Tag sind keine Seltenheit, manchmal sind es auch nur drei. „Oft wird das Thema Sexualität tatsächlich erst am Ende eines Gesprächs genannt, das erleben wir häufig“, schildert Riesterer-Nahdi.
Als Paar mit der Erkrankung umgehen
Sexuelle Probleme können aber auch eine Beziehung extrem belasten, wenn sie nicht thematisiert werden, warnt die Medizinerin: „Wir bieten darum auch gerne Paargespräche an, in denen wir, wenn es gewünscht ist, versuchen Lösungswege zu entwickeln, auch für Sexualstörungen.“ Denn häufig trügen auch Ängste der Partner dazu bei, dass das Liebesleben nicht mehr läuft. Typische Sorgen seien: Versagensängste bei Männern. Ängste nicht mehr attraktiv zu sein bei Frauen. Das führt zur Vermeidung des intimen Miteinander. „
Hier ist es ungemein wichtig, das Paar zu unterstützen wieder in den Dialog zu treten und möglichst offen über die eigene Situation, Wünsche und Bedürfnisse miteinander zu sprechen.“Dr. Daniela Wetzel-Richter, Sexualmedizinerin
Und längst nicht nur Männer betreffen Schwierigkeiten im Sexualleben nach oder mit einer schweren Erkrankung, wie Wetzel-Richter erklärt: „Eine Frau, die beispielsweise eine Brustkrebs-OP hatte, hat oft Probleme damit, ihren veränderten Körper anzunehmen und zweifelt an ihrer Attraktivität und weiblichen Identität. Der Partner ist hingegen oft unsicher und will die Frau nicht bedrängen, hält sich mit seinen sexuellen Wünschen zurück, was wiederum auf die Frau wie Ablehnung wirken kann. Wenn man Paare hier unterstützt, führt dies meist wieder zu mehr Nähe und Zufriedenheit.“
Zu den unterschiedlichen sexuellen Funktionsstörungen zählt die Sexualmedizinerin auf: „Häufig thematisiert ist die Erektionsstörung bei Männern, welche unterschiedliche Ursachen haben kann. Wir achten hier auch sehr auf medikamentöse Nebenwirkungen. Bei Frauen beispielsweise gibt es häufig Luststörungen , aber auch Schmerzen im Genitalbereich oder sogar eine vaginistische Verkrampfung (Vaginismus), umgangssprachlich auch Scheidenkrampf genannt.“ Gemeint ist hier die Vagina, die sich vor der Penetration verschließt – denkbare Gründe hierfür gibt es viele, aber auch gute Therapiemöglichkeiten, wie die Medizinerin erklärt: „Dafür muss die Schwierigkeit aber zunächst bei einem Arzt angesprochen werden.“
Veronika Riesterer-Nahdi vom PIZ in Bad Krozingen nennt außerdem die verschlechterte Durchblutung der Genitalien im Zusammenhang mit Herz-Kreislauferkrankungen als weitere Schwierigkeit. Dies sei neben dem Verlust der Libido auch bei Frauen problematisch, „doch Frauen haben hier bessere Möglichkeiten zu unterstützen, beispielsweise durch den Einsatz von Gleitmitteln“, so ihre Einschätzung.
Angst vor dem Liebesspiel
Aber kann der Akt nicht selbst auch ein Risiko sein? Natürlich sei jede Situation individuell von einem Mediziner zu beurteilen, allerdings verweist Veronika Riesterer-Nahdi auf eine Faustregel:
„Wer zwei Stockwerke Treppensteigen kann, der kann auch wieder Geschlechtsverkehr haben.“Veronika Riesterer-Nahdi, PIZ Universitäts-Herzzentrum Bad Krozingen
Wem dies zu unsicher ist, dem könne auch ein Belastungs-Elektrokardiogramm (EKG) Sicherheit geben. Riesterer-Nahdi empfiehlt: „Mit Gefühl vorgehen, aufeinander eingehen und in den eigenen Körper hineinhören. Oft ist es so, dass sich Partner wieder aufeinander einspielen müssen. Vielleicht können auch Hilfsmittel oder neue Praktiken den Sex verbessern. Es ist ein Prozess und es ist völlig normal, dass das Liebesspiel nicht direkt wieder so läuft wie zuvor.“
Mit absolut unbefriedigenden Zuständen müsse sich niemand einfach so arrangieren, sagt Veronika Riesterer-Nahdi. Allerdings: „Es ist absolut wichtig, bei solchen Schwierigkeiten ärztlichen Rat einzuholen“, sagt sie. Unter gar keinen Umständen sollte man auf eigene Faust Potenzmittel nehmen, Medikamente absetzen oder sich im Internet Rat holen: „Das kann wirklich lebensgefährlich werden.“
Sexualmedizin als Zusatzqualifikation
Aber häufig fällt es Patienten schwer, aus der Vielzahl medizinischer Fachbereiche einen geeigneten Arzt für ihre sexuellen Probleme zu finden.. „Das wird sich in Zukunft aber hoffentlich ändern“, erklärt die Leitende Oberärztin. Denn Sexualmedizin ist ein interdisziplinärer Fachbereich: „ Sexualität spielt in vielen Fachbereichen eine relevante Rolle, daher sollten sich auch verschiedenste Fachärzte hier fortbilden können“, so Wetzel-Richter. Umso positiver und für die Patienten gewinnbringend sei darum der Beschluss des Ärztetages, der das Fachgebiet Sexualmedizin seit 1. Juli dieses Jahres als umfangreiche Zusatzqualifikation nun allen Medizinern als anerkannte Weiterbildung ermöglicht. „Bislang gab es keinen offiziellen Zusatztitel. Aber es ist so ungemein wichtig, dass verschiedenste Ärzte ihren Patienten Angebote für Beratung und Therapie machen können“, so die Sexualmedizinerin.
Über Sexualität sprechen – eine teils grundlegende Schwierigkeit.
„Sexualität ist oft mit Scham behaftet und wenn sowohl der Patient, als auch der Arzt hier Schamgefühle haben, dann bleibt vieles unausgesprochen.“Dr. Daniela Wetzel-Richter, Sexualmedizinerin
Die neue Qualifikation soll Medizinern mehr Sicherheit geben und sie ungeachtet ihres fachlichen Schwerpunkts befähigen, den Bereich Sexualität entsprechend anzusprechen- und ganz im Sinne der Patienten und deren individueller Situation Angebote machen zu können.
Sex und Corona
„Abstand halten“: So lautet neue gesellschaftliche Grundregel in Zeiten der Corona-Pandemie. Berührungen und Intimität sind aber für die meisten Menschen essenziell für Gesundheit und Wohlbefinden. Das neuartige Virus Sars-CoV-2 wirkt sich auf praktisch alle Bereiche und auch auf das Liebesleben aus.
- Die Informationen: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) informiert mit ihrer Kampagne Liebesleben Liebesleben zu Fragen rund um HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen. Aktuell ist das Angebot erweitert um das Thema „Coronavirus und Sexualität“ auf www.liebesleben.de/corona. „Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie besteht hohes Interesse an diesem Themenfeld, das nun aber langsam abflacht“, so die BZgA auf Nachfrage.
- Übertragung: Das Corona-Virus zählt nicht zu den sexuell übertragbaren Infektionen, allerdings besteht beim Sex die Gefahr, sich zu infizieren: Die BZgA führt hier geringen Abstand, küssen, anhauchen oder auch die Möglichkeiten einer Schmierinfektion auf, beispielsweise bei der gemeinsamen Nutzung von Sexspielzeug.
- Ansteckungsrisken: Ganz generell sollten persönliche Treffen mit anderen Menschen eingeschränkt werden – auch wenn es um Sex geht. Was das bedeutet, ist aber individuell verschieden: Während monogame Paare, die zusammenleben, ohne Krankheitsanzeichen sich beim Sex nicht einschränken müssen, empfiehlt die BZgA, möglichst auf wechselnde Sexpartner zu verzichten.
- Neue Kontakte: Wie auch im Alltag gelte beim Dating, dass persönliche Treffen eingeschränkt und vermehrt digitale Möglichkeiten genutzt werden sollten.
- Ängste: Die BZaG weist darauf hin, dass manche Menschen aufgrund der aktuellen Situation kein Interesse mehr an Sexualität haben. Schwierig sei dies, wenn man aus Sorge vor einer Ansteckung Sexualität nicht mehr genießen könne. „Hier kann das offene Gespräch mit der Partnerin oder dem Partner jedoch helfen – unter Umständen aber auch eine professionelle Beratung“, so die BZgA.