Heiner Fritze erinnert sich noch gut an die Zeiten, als die Kinder im Bodensee schwimmen gelernt haben. Das war bis zum Sommer 1984. Danach, so erzählt der Vorsitzende der DLRG-Ortsgruppe in Allensbach, hätten die Kurse im warmen Therapiebecken der Kliniken Schmieder stattgefunden. Nun geht es wegen Corona für die Nichtschwimmer wieder zurück in den See, damit möglichst viele Kinder in diesem Sommer schwimmen lernen. Es gibt einiges aufzuholen: Wegen fehlender Möglichkeiten haben in vergangenen 14 Monaten rund 100.000 Kinder in Baden-Württemberg das Seepferdchen nicht gemacht.
Runtergebrochen auf die Gemeinde Allensbach sind es etwa 100 Kinder, die keinen Kurs besuchen konnten. Das wollen die Verantwortlichen der Ortsgruppe möglichst schnell nachholen und haben sich entschieden, das Training wieder in den Bodensee zu verlegen. „Das Becken in den Schmieder Kliniken war das Paradies. Aber das ist derzeit leider unerreichbar für uns“, sagt Fritze. Bei konstanten Wassertemperaturen sei es möglich gewesen, mit den Kindern bei jedem Wetter zu üben.

„Back to the roots“, sagt Fritze, zurück zu den Wurzeln im Bodensee. Das wird eine Umstellung für alle. Statt fester Kurszeiten sieht das Konzept der Allensbacher individuelle Trainingseinheiten vor. Jedem Kind wird ein Helfer zur Seite gestellt, mit dem die zehn Übungseinheiten von je 30 Minuten individuell vereinbart werden können. 70 Kinder stehen derzeit schon auf einer unverbindlichen Anmeldeliste. Ob alle in diesem Jahr schwimmen lernen werden, hängt auch von der Zahl der freiwilligen Helfer ab. Außerdem muss das Wasser eine Temperatur von mindestens 22 Grad haben.
„Wir schaffen es nicht, allen Kindern das Schwimmen beizubringen“, sagt Holger Voigt, Geschäftsführer des Badischen Schwimmverbands. Das sei schon vor Corona ein Problem gewesen, aber nun müssten etwa 16.000 Schwimmkurse in Baden-Württemberg zusätzlich angeboten werden, um bei den betroffen Jahrgängen das ausgefallene Anfängerschwimmen nachzuholen. „Das ist rechnerisch nicht zu schaffen.“ Finanzielle Unterstützung dafür habe das Kultusministerium in Aussicht gestellt, sagt Voigt. Voraussichtlich stünden eine Million Euro zur Verfügung, um die Schwimmvereine bei den zusätzlich Kursen zu unterstützen.
„Wir schaffen es nicht, allen Kindern das Schwimmen beizubringen.“Holger Voigt, Geschäftsführer des Badischen Schwimmverbands (BSV)
„Die Politik hat die Situation erkannt“, sieht Voigt die Erfolge. „Es gibt Geld zur Unterstützung, aber Geld lehrt nicht Schwimmen.“ Es gebe zum einen nicht genügend Personal. Zum anderen fehlen im ganzen Land geeignete Wasserflächen, so dass die Vereine schon über einen Zugang zu Therapie- oder Hotelbädern dankbar seien.
Deswegen soll eine gemeinsame Sommerkampagne der beiden DLRG-Landesverbände Baden und Württemberg sowie der jeweiligen Schwimmverbände für das Schwimmen werben, erzählt Ludwig Schulz vom DLRG-Landesverband Baden. Städte und Gemeinden sollen bewegt werden, die Schwimmbäder im Sommer offen zu lassen. „Denn auch wenn die Schwimmbäder wieder öffnen dürfen, heißt das nicht, dass die Gemeinden das auch tun – wegen der hohen Fixkosten“, blickt Schulz auf die aktuelle Coronaverordnung.
Mitgliederschwund bei den Vereinen
Schon länger kämpfen die Verbände dafür, dass Kinder bis zum Ende der Grundschulzeit das Schwimmen lernen. „Über die Hälfte der Grundschüler kann nicht schwimmen“, sagt Lebensretter Schulz, das sei schon vor Corona so gewesen. „Und wenn die Kinder jetzt vier Jahre auf der Warteliste stehen, ist auch niemandem geholfen. Es ist eine Herkulesaufgabe, die Lücke wieder zu schließen.“
Dafür sei es notwendig, neue Konzepte zu entwickeln, schließt sich Voigt an. „Kinder sollten in der Grundschule keine Angst mehr vor dem Wasser haben.“ Deswegen wäre eine Unterstützung durch hauptberufliche Schwimmlehrer schon in den Kindergärten sinnvoll. Dann hätten es die Grundschullehrer anschließend einfacher.
„Über die Hälfte der Grundschüler kann nicht schwimmen.“Ludwig Schulz, Geschäftsstellenleiter, DLRG Landesverband Baden
Und wie sehen die Lebensretter dem Sommer an den Wachstationen entgegen? Der DLRG-Landesverband geht in einer Pressemitteilung davon aus, dass mit der Zahl der Nichtschwimmer auch die Zahl der Ertrinkungsfälle drastisch ansteigen könnte. „Bisher war es durch das Wetter recht ruhig“, sagt Ludwig Schulze. Regen oder Hitze – das Wetter sei ein entscheidender Faktor, wie sich die Lage weiterentwickelt.
„Schwimmen ist nicht wie Rad fahren“, sagt Voigt. „Schwimmen ist lebensrettend.“ Aber es habe auch eine soziale Komponente. Wer nicht schwimmen kann, ist auch schnell ausgegrenzt, wenn es im Sommer an den See oder ins Freibad geht. Weil die Sicherheit fehlt, kommen auch Wassersportarten dann nicht in Frage. Und auch für die Gemeinden seien die Schwimmer wichtig, wenn sie die Eintrittsgelder für Schwimmhallen und Spaßbäder zahlen.
Die Allensbacher kennen das Problem mit den begrenzten Wasserflächen gut. Der Verein ist auf die Bäder in Konstanz angewiesen. Die Schwimmausbildung sei derzeit schwierig, sagt Fritze. „Wir sind froh, wenn wir im Herbst fürs Training eine Bahn in Konstanz bekommen. Noch hängen wir völlig in der Luft.“
Unsicher ist auch, ob das Klinikbad im Herbst wieder genutzt werden kann – wenn es kalt wird. Der Zugang sei bislang immer durch das Klinikgebäude gegangen. Das könne mit Blick auf die Patienten und das Infektionsrisiko schwierig werden. Bislang habe der Verein das Bad kostenlos nutzen können. Aber wenn zusätzlich alles desinfiziert werden muss, sei fraglich, ob das weiterhin möglich sei.