Manchmal, sagt Sandra Müller, sorgt ihre Mutter sich um sie. Wegen ihres Jobs. Dann sage die Mutter zur Tochter: „Du bist so zart besaitet – und ständig umgeben mit Trauer, Särgen, weinenden Menschen! Du wirst doch nicht Schaden nehmen?“ Sandra Müller wirft den Kopf in den Nacken und lacht. Ja, der Beruf als Trauerrednerin habe sie verändert. Nur anders, als ihre Mutter fürchtet.

Eigentlich hält Sandra Müller auch Traureden, Reden auf Jubilare oder zu Geburtstagen. Nur fiel das alles wegen Corona flach. Also standen in den vergangenen zwei Krisen-Jahren fast nur Beerdigungen an. Viele Beerdigungen. 134 Reden auf kürzlich Verstorbene zählt die 54-Jährige seit Ausbruch der Pandemie. Unterwegs ist die Konstanzerin im ganzen Landkreis und darüber hinaus.

„Man kann besser leben, wenn man sich mit dem Ende befasst.“

Wie hält sie das aus, ohne Schaden zu nehmen, um es in den Worten ihrer Mutter zu sagen? Wer das Büro von Sandra Müller in Konstanz betritt, wird eingelassen in ein zwölf Quadratmeter großes Reich bestehend aus Bücherregalen bis zur Decke, einer alten Wanduhr, einem Eckschreibtisch und ganz viel lachenden Gesichtern. Als Zeichnungen an der Wand mit Sprüchen wie „Da man sowieso denkt, kann man auch gleich positiv denken“, auf den Taschentüchern in der Mitte des Tischs und sogar auf der kleinen Zuckerpackung, die sie zum Kaffee reicht. Ist das der Versuch, all das Leid auf Abstand zu halten, eine Art Schutzmauer aus Strichmännchen und Positiv-Mantras?

Bild 1: Warum Sandra Müller fröhlicher auf die Welt blickt, seit sie Trauerreden hält
Bild: Eva Marie Stegmann

„Wir alle haben diesen Reflex: ‚Oh Gott, Tod, Sterben, das ist so schlimm, damit will ich mich nicht befassen.‘ Den hatte ich auch. Heute weiß ich: Man kann besser leben, wenn man sich mit dem Ende befasst.“

Um das zu erklären, muss sie etwas ausholen und ein wenig persönlich werden. Doch zuerst gießt sie sich und den Gästen Filterkaffee aus der Maschine ein, die sie nur deshalb gekauft hat, weil sie das Geräusch so mag. Die Maschine, die Smiley-Bilder, die Art, wie Sandra Müller einen ansieht im Gespräch – so, als ob sie einen wirklich sieht – wirken wie Spuren der neuen Lebenseinstellung, die sie durch die Arbeit als Trauerrednerin in den vergangenen zwei Jahren gewonnen hat. „Ich lebe viel bewusster“, sagt sie. „In den letzten zwei Monaten hatte ich 14 Trauerfeiern. Davon waren nur zwei Verstorbene wirklich alt. Die anderen zwölf zwischen 50 und 70. Die meisten davon gingen von jetzt auf gleich.“

Das könnte Sie auch interessieren

Eine Garantie, 80 oder 90 Jahre alt zu werden, hat keiner. Die vielen zu frühen Tode haben Sandra Müller dazu gebracht, ihr Da-Sein noch einmal neu zu betrachten, eine Art Lebens-Inventur zu machen. „Bei mir stehen noch ein paar Sachen auf dem Zettel, die ich erleben will. Das ist mir erst klar geworden durch die Beschäftigung mit dem Tod.“ Sie änderte ihr Leben, dazu gehörten auch schmerzhafte Schritte: „Ich habe viele Energie- und Zeitfresser aussortiert. Die braucht nämlich keiner.“

„Dabei komme ich den Menschen unglaublich nah“

Für ihren Job ist es sehr wichtig, offen zu sein und genug Energie zu haben. Wenn sie darüber spricht, wie ihre Trauerreden entstehen, gerät sie ins Schwärmen: „Bevor ich richtig loslege, brauche ich Bilder. Ich recherchiere zu der Person und spreche mit den Nachkommen. Dabei komme ich dem Menschen unglaublich nah. Das ist ja ein ganzes Leben, das man kennenlernt. Das ist ganz intensiv und intim. Dabei muss man sehr verantwortungsvoll sein und zum Beispiel wissen, wie man mit Trauernden umgeht.“

Das Büro mit vielen Büchern.
Das Büro mit vielen Büchern. | Bild: Eva Marie Stegmann

Eine Trauerrede, sagt sie, ist ein Denkmal für die Person, die gegangen ist. Die Gespräche mit den Verwandten und Freunden können schon mal länger dauern, auf die Uhr schaut Sandra Müller nie. „Oft sitze ich ganze Nachmittage auf der Familiencouch.“ Manchmal wird sie dabei auf einen Schnaps zu Ehren der Toten eingeladen. Es wird gelacht und geweint.

Wenn die Trauerrede gehalten ist, ist für die Konstanzerin der Job noch nicht vorbei. Drei oder vier Wochen nach der Beerdigung ruft sie bei den Hinterbliebenen an, fragt, wie es geht. „Wenn ich dann höre, wie viel meine Rede ihnen bedeutet hat, ist das das Schönste.“

Wer sich beim Lesen dieses Textes mit dem Gedanken trägt, selbst Trauerrednerin zu werden, der sei vorgewarnt: Die Beschäftigung mit dem Thema erfordert, dass man Trauer aushalten können muss. Bei sich selbst und bei anderen. „Man muss ein hohes Maß an Resilienz, also psychische Widerstandskraft, mitbringen, aber auch Empathie – muss Zwischentöne hören und tröstend da sein, ohne sich von dem Geschehen absorbieren zu lassen“, erklärt Sandra Müller. Während einer Beisetzung muss man im Stande sein, die eigenen Tränen zurückzuhalten, egal, wie emotional es wird.

Das könnte Sie auch interessieren

Das Gleiche gilt für Hochzeiten – das Brautpaar und die Gäste dürfen Freudentränen verdrücken, die Traurednerin sollte das nicht. Hochzeiten und Beerdigungen, beides sind Meilensteine eines Menschenlebens. „Es ist eine Ehre, dabei sein zu dürfen“, sagt sie. Sie hofft, dass sich in diesem Frühjahr und Sommer wieder mehr Paare trauen, trotz Corona.

Der Virus hat die Trauer infiziert, nicht die Toten

Übrigens: Anders, als man meinen könnte, ist die ganz große Mehrheit der Toten, an deren Grab Sandra Müller die letzten Worte spricht, nicht an dem Virus gestorben. Mehr als den Tod selbst, hat der Virus offenbar die Trauer infiziert. „Da sind wahnsinnig viele Verletzungen entstanden, weil sich die Menschen nicht richtig verabschieden konnten, weil sie nicht in die Krankenhäuser oder Heime durften.“ Eine Wut, die geblieben ist. Auf die Kliniken, auf den Virus, auf den Staat mit seinen Regeln.

Eine Wut, die, hört man Müller zu, hartnäckig ist: „Das Wissen, dass jemand, den man liebt, hat allein sterben müssen, da kommen die Angehörigen kaum drüber weg. Ich verstehe das gut.“ Sie selbst haderte lange damit, dass sie sich von ihrer Oma mit neun Jahren nicht richtig verabschieden konnte. „Meine Eltern meinten es gut. Aber Trauer ist wichtig, auch für Kinder. Ihr könnt nie mehr Abschied nehmen in der Form wie jetzt.“ Müller verrät, wie sie sich deshalb jahrzehntelang nicht herangetraut hatte an das Thema Trauer. Als sie sich überwand, sei das wie eine Initialzündung gewesen für ihren Beruf, der Berufung geworden ist.

„Ich glaube nicht an Gott, aber ich bin sicher: Die Toten sind alle da, die kriegen das mit, die kucken uns zu. Solange wir uns erinnern, sind sie bei uns.“