Die Untersuchung von Leichnamen und menschlichen Überresten – da denkt der moderne Mensch sofort an die Gerichtsmedizin: Seziertische aus blankem Metall, dreh- und höhenverstellbar, daneben ein Mann im weißen Kittel. Aber mit einer „Tatort“-Gestalt wie Professor Dr. Karl Friedrich Boerne hat Michael Francken außer dem Doktortitel wenig gemeinsam.
Der Anthropologe des Landesamtes für Denkmalpflege arbeitet in Konstanz nicht zwischen weißen Keramikwänden und braucht auch keine Gummihandschuhe. Sein eher nüchterner Forschungsplatz unterscheidet sich wenig von einem mit Schachteln, Büchern und Zeitschriften vollgestellten Büro eines Archivars, fiele der Blick nicht auf einen Holztisch in der Mitte: Darauf hat Francken die Knochen eines menschlichen Skeletts angeordnet – vom nicht mehr ganz vollständigen Schädel bis zu den Zehenknochen.

Dieser Mensch – vermutlich ein Mann zwischen 20 und 30 Jahren – wurde in einem Prozess abgeurteilt und hingerichtet. Genauer: Mit dem Schwert geköpft. Auf einem Richtplatz bei Allensbach fand er sein Ende. Vermutlich vor 200 bis 300 Jahren. Was kann Michael Francken zu seinem Tod sagen? Wir stellen dem Experten Fragen:
Kann der Forscher Aussagen zur Art der Hinrichtung machen?
Grundsätzlich ja, aber es kommt auf die Unterschiede an. Der Mann, dessen Skelett auf dem Tisch liegt, wurde eindeutig mit dem Schwert hingerichtet. Denn die Klinge des Richtschwerts hat Wirbel und Knochen glatt durchschlagen. Das kann man an den Überresten deutlich erkennen.
Außerdem lag der Kopf am Fundort zwischen den Beinen. Weisen Knochen keine Spuren äußerer Verletzungen auf, geht Francken davon aus, dass der Mensch am Galgen starb. Aber nicht durch Genickbruch (wie bei modernen Galgen mit Falltür üblich), sondern durch langsames qualvolles Ersticken an einem Strick oder einer Eisenkette. Eine solche wurde bei Allensbach in einer Brandgrube mit menschlichen Knochen gefunden.
Musste der Delinquent seinen Hals auf einen Richtblock legen, wie man es von Historien-Filmen kennt?
In Allensbach und auch an anderen Orten wurde kein Richtblock verwendet. Der Verurteilte musste sich vor den Henker knien oder saß auf einem Stuhl oder Schemel. „Dann konnte der Hieb mit dem Schwert durchaus fehl gehen“, sagt Michael Francken.
Der Beweis dafür liegt in den Knochen auf dem Tisch vor. Der Delinquent hat sich vermutlich bewegt oder der Henker zielte schlecht, so dass der Schnitt weiter unten im Nacken-Schlüsselbein-Bereich erfolgte. Die Methode ohne Richtblock barg also die Gefahr eines unnötig blutigen Schauspiels. Der Henker musste sehr konzentriert vorgehen. Nicht immer gelang ihm das.

Woran erkennt der Forscher, dass er es mit dem Skelett eines Mannes zu tun hat?
Zunächst: Zu erkennen, ob die Knochen zu einem Mann oder einer Frau gehören, ist nicht einfach. „In diesem Fall deutet die Beckenform auf einen Mann hin“, sagt Michael Francken. Auch am Schädel lässt sich im Bereich des Nasenbeins das Geschlecht der Person feststellen.
Wichtige Merkmale, die der Anthropologe deuten kann, sind sogenannte Muskelmarken. Zwar ist das Fleisch längst verwest, doch Muskeln hinterlassen auf den Knochen ein Relief. Bei Männern, vor allem wenn sie körperlich arbeiten mussten, sind diese gut erkennbar. Aber auch bei Frauen kann an Knochen sichtbar werden, ob sie – etwa in der Landwirtschaft – stark hinlangen mussten.
Kann man etwas über die Verfassung des Hingerichteten sagen?
Ja, durchaus. Gelenke können stark oder kaum abgenutzt sein, was auf den Beruf schließen lässt. Auch Mangelkrankheiten oder Knochenhautentzündungen durch Dauerbeanspruchung lassen sich nach 300 Jahren noch immer erkennen. „Dieser hier war ein gesunder junger Mann mit guter Ernährung“, sagt Michael Francken mit Blick auf das Skelett. Nur die Zähne weisen einen leichten Kariesbefall auf.
Ob ein Mensch sozial eher oben oder unten stand, lässt sich am Knochenbild kaum sicher feststellen. Da war es damals wie heute: Muskeln und Sehnen sind nicht nur den Arbeitern und Handwerkern vorbehalten.
Trugen die Verurteilten bei ihrem Tod eine Art Büßergewand, so wie man es auch auf späteren Darstellungen sieht?
Darauf deutet in Allensbach nichts hin. Im Gegenteil scheinen die Menschen in ihrer Alltagskleidung hingerichtet worden zu sein. „Wir haben in Brandgruben und bei den Skeletten fast immer Haken und Ösen – sogenannte Haften – gefunden, die zum Verschließen der Kleidung benutzt wurden“, sagt Kreisarchäologe Jürgen Hald, der die Ausgrabung im Sommer geleitet hat.
Bestimmte Bei-Funde können Aufschluss über das Geschlecht geben. So fanden sich in Allensbach bei einem Skelett Gagatperlen, die zur Kopfhaube einer Frau gehört haben könnten.
Was geschah nach dem Tod der Hingerichteten?
Die Archäologen haben zwischen den Fundamenten des Allensbacher Galgens mehrere Skelette geborgen. Das deutet darauf hin, dass sie – als zusätzliche Strafe – unchristlich ohne eigenes Grab vergraben wurden. Offen ist die Frage, ob die Menschen, deren Knochen man in Brandgruben freigelegt hat, lebend oder erst nach dem Tod verbrannt worden sind.
„Wie man mit einem toten Körper umgeht, war Teil der Strafe“, sagt Jürgen Hald. Wurde ein Leichnam verbrannt, konnte er nach damaligem christlichen Glauben nicht auferstehen – eine schwere Belastung für Menschen, die dem Tod ins Auge sahen.

Kann man sagen, wann genau ein Mensch exekutiert wurde?
Nein. Grob kann man das schätzen, indem man die Fundlage heranzieht. Das Skelett auf dem Tisch wurde als oberstes von mehreren vergrabenen Skeletten gefunden. Das deutet auf eine Hinrichtung im 18. oder späten 17. Jahrhundert hin.
Tod auf dem Richtplatz Allensbach – Was die Archäoligen gefunden haben, bevor an der B33 die Bagger anrückten:
Mit der Radiocarbonmethode kann man zwar recht genau sagen, wann ein Mensch gelebt hat – das gilt aber nicht für die Neuzeit, denn da sind die Werte ungenau. Die Methode wird daher vorwiegend für Skelette aus prähistorischer Zeit eingesetzt.
Wurden die Delinquenten vor ihrem Tod gefoltert?
Ja, wenn das richterliche Urteil dies vorsah. Bei Allensbach wurden Oberschenkel- und Oberarmknochen gefunden, die eindeutig durch Schläge in der Mitte gebrochen wurden. Michael Francken vergleicht die Verletzungen mit jenen, die entstehen, „wenn ein Auto einen Menschen erfasst“.
Üblich war damals als Folterstrafe das sogenannte Rädern. Dabei wurde der Delinquent auf dem Boden mit ausgestreckten Beinen und Armen festgebunden. „Der Scharfrichter zerschmetterte dann mit gezielten Schlägen mit einem großen Wagenrad vom Hals her oder von den Füßen her die einzelnen Gliedmaßen“, sagt Jürgen Hald.

Erst nach dieser Tortur wurde der Körper auf ein hölzernes Rad gebunden, indem man die zerschmetterten Glieder durch die Speichen flocht, und dann das Rad auf einem Pfahl aufrichtete und den Verurteilten zur Schau stellte.
Kamen Hinrichtungen in Allensbach oft vor?
Kreisarchäologe Jürgen Hald spricht von „eher seltenen Ereignissen“. Auf dem Richtplatz in Allensbach wurden zwischen dem späten 15. Jahrhundert bis zur letzten Exekution 1770 vermutlich etwa 40 Todesurteile vollstreckt. Im 18. Jahrhundert kam es nur zu zwei bis drei Hinrichtungen. „Es können demnach zwischen zwei Exekutionen oft mehrere Jahre gelegen haben“, meint Jürgen Hald. Besonders kriminell war die Gegend des Reichenauer Gerichtsbezirks also vermutlich nicht.