Johannes Bliestle spricht von „hotelähnlichen Zuständen“. Im Wohnkomplex für Erntehelfer der Reichenauer Gärtnersiedlung in Singen-Beuren sind die tüchtigen Helfer in seinen Augen vorbildlich untergebracht. „Wir erfüllen die Corona-Auflagen in allen unseren Betrieben“, sagt der Geschäftsführer von Gemüse Reichenau – eine Institution im grünen Geschäft. Seine Gärtner täten alles, um einen Corona-Ausbruch zu verhindern.
Dennoch bleibt ein Beigeschmack. Der Mann weiß, welche Knöpfchen er drücken muss, um sich selbst aus der Schussbahn zu nehmen. Wann immer der Kommunikationsprofi von Lobeshymnen spricht, folgt prompt ein „aber“ – freilich nur im Nebensatz. Aber hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Aber alles und jeden kontrollieren, geht zu weit. Aber die Betriebe sind natürlich selbst verantwortlich.

Einen Tag später: Matthias Keller gehört zu diesen Verantwortlichen, die Bliestle häufig erwähnt. Mit vier anderen Familienbetrieben gründete er im Jahr 2011 aufgrund der eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten auf der Insel ein neues Gewächshaus für den Anbau von Paprika und Auberginen in Singen-Beuren. Seither gehört Keller zum größten Gemüseproduzenten für die vegetarische Allianz.
Auch Keller ist selbstverständlich von seiner Unterkunft überzeugt. Wohnen im Hotelcharakter – so beliebt bei Erntehelfern, dass nebenan ein grauer Zwilling entsteht.
Kein Wunder: „Du musst heute deinen Helfern etwas bieten“, erklärt Keller. Wer nicht ausreichend entlohnt oder schäbige Wellblechhütten anbietet, bekommt kein Personal.
Warum? Die Branche hat sich gewandelt. Früher waren es viele Polen, die für einen Hungerlohn auf deutschem Acker ackerten. Dann kam der wirtschaftliche Aufschwung im Nachbarland. Viele wollten plötzlich nicht mehr kommen, um deutsche Teller zu füllen.
Landwirte mussten umdenken, neue Zielgruppen erschließen quasi. Seither setzt man größtenteils auf Rumänen und Bulgaren. Doch auch dort steigt die Kaufkraft, wenn auch in kleinen Schritten. Der Anspruch an den deutschen Arbeitgeber wächst deshalb. Gute Erntehelfer sind rar geworden. Sie wissen genau, dass die Bauern von ihnen abhängig sind.
Erntehelfer sind gut vernetzt
Und: Im Internet und via Smartphone sind sie sehr gut miteinander vernetzt. Das hört man von vielen Bauern in der Region, mit denen der SÜDKURIER in den vergangenen Wochen und Monaten sprach. Sollten Landwirte einmal zu wenig oder gar nicht zahlen, spricht sich das in der eingeschworenen Gemeinschaft schnell herum. So entsteht ganz automatisch ein ausgeglicheneres Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Deshalb hat Keller nichts zu verbergen. Er bittet den SÜDKURIER gerne in seine Betonhallen. Weiße Wände, wenig Farbe, praktisch geschnittene Räume.
Zwei Betten, eine Kochnische, Fernseher an der Wand, gefliestes Bad mit Dusche und WC. Puristik-Liebhaber wären begeistert. Menschen, die es wohnlich mögen, eher nicht. Dennoch scheint das Domizil den Erntehelfern aus Rumänien und Polen, die für unser Gemüse den Buckel krumm machen, zu gefallen.
„Billiger kannst du in Singen einfach nicht wohnen, wenn du es schön haben willst“, beschreibt es Matthias Keller. 210 Euro verlangt der Chef der fünf Familienbetriebe, die sich vor Singens Stadttoren zusammen niedergelassen haben, für Zweier- und Vierer-WGs. Fußballplatz, Feuerstelle, Grill, Terrasse, Heißwasser und Strom – alles inklusive.
„Es gibt einige, die sich etwas eigenes in der Stadt suchen“, sagt Keller. „Aber die meisten leben gerne hier – auch wegen der Nähe zum Arbeitsplatz.“ 500 Meter Luftlinie liegen zwischen Logisitikhalle und Unterkunft. Viele kommen mit dem Fahrrad.
Bevor sie ihren Arbeitsplatz betreten, werden Hände desinfiziert. Die Arbeiter sind stets in drei Werkgruppen eingeteilt. Sie beginnen viertelstündig verzögert. Um genügend Abstand halten zu können, wurde sogar ein Kühlhaus zum Pausenraum zweckentfremdet. Sollte jemand positiv auf das Coronavirus getestet werden, können auf Matthias Kellers riesigem Hof Infektionsketten schnell nachvollzogen werden. Fünf Container hat er für eine mögliche Quarantäne angeschafft.

Neben der Gruppeneinteilung gibt es im Hightech-Gewächshaus eine weitere Sicherheitsstufe: Bevor die Arbeiter sich einer der unzähligen Paprikareihen widmen, melden sie sich mit ihrem elektronischen Erkennungsgerät an. Die Daten werden eigentlich zur Arbeitszeiterfassung gesammelt. In Krisenzeiten entpuppt sich die Technik als wertvoller Coronamesser. Denn so können mögliche Infektionsketten bei der Arbeit noch besser lokalisiert werden.

Apropos Arbeit: „Wer überdurchschnittliche Leistung zeigt, wird bei uns belohnt“, betont Keller. Arbeit im Akkord will er es nicht nennen. Leistungsprinzip klingt besser. Rund 20 Prozent mehr Lohn können fleißige Helfer dann erwarten. Der Rest muss sich mit dem Mindestlohn zufriedengeben.
Wer sich über die Jahre einen Namen macht, kann sich hocharbeiten. So wie George Serban. Er hat sich zum Hallenmeister gemausert. Serban gibt den Ton in der Halle an, verteilt die Arbeiter auf ihre Posten. Manchmal muss er sie an die Hygienevorschriften erinnern. „Die meisten halten sich an die Regeln. Wir kontrollieren das auch“, sagt er im guten Deutsch.

Viele Arbeiter in Singen-Beuren sind nicht nur im Frühling und Sommer da. Sie verbringen zehn Monate hier. Die restlichen acht Wochen machen sie Urlaub in der Heimat Osteuropa.
Serban selbst lebt deshalb mit seiner eineinhalbjährigen Tochter und Ehefrau in einer Wohnung. Die „hotelähnliche“ Unterkunft nebenan ist nichts für ihn. Ob sich seine Kollegen dort an die Regeln halten, könne er nicht sicher sagen.
Florin Gogescu ist gerade dabei mit einem Gabelstapler einen Wassertank durch die Halle zu bugsieren. Er hingegen lebt in der Unterkunft und spricht vom achtsamen Umgang untereinander. „Niemand will krank werden“, sagt er.

Überraschend ehrlich klingt sein Chef Matthias Keller. „Ich bin dafür verantwortlich, was in diesen Hallen passiert. Was sie privat machen, kann ich nicht kontrollieren. Ich glaube aber schon, dass alle den ernst der Lage verstanden haben.“
Fakt ist: Sollten mehrere Erntehelfer sich mit dem Coronavirus infizieren, droht die Betriebsschließung, ein Millionenschaden und nicht zuletzt auch der Ruin. Keller hatte Glück: „Ich habe mich noch kurz vor der Krise versichert. Das war Mitte, Ende Februar“, sagt der Gemüsebauer. Wenige Tage später wäre das nicht mehr möglich gewesen.
Bei Landwirtin Sabine Wehrle arbeiten zwei Saisonarbeiter
Sabine Wehrle geht mit der Gesamtsituation heute etwas entspannter um. Sie führt einen kleinen Gemüsehof auf der Insel Reichenau mit zwei Erntehelfern aus Rumänien. Im Gegensatz zu Matthias Keller, der fast das ganze Jahr über genügend Erntehelfer bei sich beherbergt, war es bei Wehrle lange unklar, ob sie dieses Jahr überhaupt noch Ernte einfahren kann.
Denn manche Saisonarbeiter kamen zu Beginn der Krise vielerorts nicht nach Deutschland, weil sie Angst hatten, sich hier mit dem Virus anzustecken. In Deutschland gab es Mitte März etwa 10.000 Infizierte, in Rumänien erst 250.

Und: „Wir wussten ja nicht, ob Erntehelfer aus dem Ausland überhaupt kommen dürfen“, sagt Wehrle. Die Not war so groß, dass das Strandhotel Löchnerhaus zwei Helferinnen stundenweise zur Verfügung stellte. Dann gab Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner grünes Licht.
„Es war erleichternd, als die Zusage dann kam“, beschreibt es Sabine Wehrle mit Lächeln im Gesicht, während Ioan Trifoi die Tür zu seinem Container öffnet. Er zeigt sein kleines Reich dem SÜDKURIER gerne.
Trifoi teilt sich das Bett mit seinem Kollegen Ioan Kostina. „Das macht mir überhaupt nichts aus. Zu zweit reicht uns das“, sagt er.
Bei den Besuchen stellt sich heraus: Je kleiner der Hof, desto einfacher ist es, die Corona-Auflagen einzuhalten. „Die größeren Betriebe haben da bestimmt einen deutlich höheren Aufwand“, schätzt Wehrle. Klar – die Gefahr zu erkranken, ist bei ihr geringer. Falls Trifoi oder Kostina doch positiv getestet werden sollten, hätte Wehrle genug Platz für Isolation in einer ihrer Ferienwohnungen. So weit möchte sie aber gar nicht denken.