Die 1970er Jahre waren für Bermatingen eine Zeit des Wandels. Diese Dekade sollte sich nachhaltig auf das Ortsbild auswirken, denn das Dorf wollte moderner werden. Verkehrsplanerisch glaubte man Ende der 1960er Jahre, dass ein ungehemmter Verkehrsfluss in der Ortsdurchfahrt Lärm und Unannehmlichkeiten für Anwohner vermindern würde.

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Von 1970 bis 1972 entstanden eine breitere Ortsdurchfahrt, beiderseits entlang der Salemer- und Markdorfer Straße Gehwege, Haltebuchten für Omnibusse und darüber hinaus eine Ampelanlage an der Einmündung zur Weiherstraße. Bermatingen hieß die moderne Welt mit offenen Armen willkommen.

Es ist zu erwarten, dass bei der umfänglichen Sanierung der Straße im kommenden Jahr die eine und andere Hinterlassenschaft der Kapelle ...
Es ist zu erwarten, dass bei der umfänglichen Sanierung der Straße im kommenden Jahr die eine und andere Hinterlassenschaft der Kapelle wieder zum Vorschein kommt. | Bild: Jan Manuel Heß

Wie sehr man damals auf dem Holzweg war, zeigte sich laut den Quellen aber bereits 1979. So schreibt Erika Dillmann in dem anlässlich der 1200-Jahr-Feier erschienen Heimatbuch zur aktuellen Entwicklung des Dorfs: „Der Straßenverkehr ist ohnedies eines der ungelösten Probleme Bermatingens.“ Am meisten beklage man den Verkehr, „der in unablässiger Folge durch das Dorf brause“, so Dillmann weiter.

Für die Kinder im Dorf stellte der Abriss der Kapelle ein großes Erlebnis dar, das man nicht alle Tage zu sehen bekam.
Für die Kinder im Dorf stellte der Abriss der Kapelle ein großes Erlebnis dar, das man nicht alle Tage zu sehen bekam. | Bild: Elisabeth Grömminger

Anfang der 1970er Jahre war man allerdings noch bereit gewesen, für den erwünschten „ungehemmten Verkehrsfluss„ Opfer zu bringen. Eines davon war die an der Kreuzung Salemer Straße/Ahauser Straße in Richtung Neufrach gelegene Laurentiuskapelle. Sie stand der Modernisierung buchstäblich im Weg und wurde 1971 abgebrochen. Von einem „unwiederbringlichen Verlust“ schreibt Dillmann im Heimatbuch.

Bagger rollten für den Abriss an.
Bagger rollten für den Abriss an. | Bild: Elisabeth Grömminger

Ganze 503 Jahre stand hier eine Kapelle, die das Ortsbild prägte. Hermann Zitzlsperger hat sich intensiv mit der Geschichte der Kapelle auseinandergesetzt. „Die erste nachgewiesene Kapelle an dieser Stelle wurde 1468 im gotischen Stil erbaut und war anfangs gleich zwei Heiligen gewidmet: Jodokus und Leonhard.“ Ersterer war ein bretonischer Fürstensohn aus dem 7. Jahrhundert, der bis heute als Klostergründer, Einsiedler und Pilger verehrt wird. Leonhard war ein fränkischer Adelssohn, der am Hof der Merowinger aufwuchs und als Schutzpatron der Gefangenen (Kettenheiliger) sowie für das Vieh, insbesondere für die Pferde gilt.

Blickrichtung von Neufrach kommend: Nachdem Turm und Kapelle abgerissen waren, konnte man schon erahnen, wie sich die neue ...
Blickrichtung von Neufrach kommend: Nachdem Turm und Kapelle abgerissen waren, konnte man schon erahnen, wie sich die neue Ortsdurchfahrt durch den Ort ziehen wird. | Bild: Elisabeth Grömminger

Rund 300 Jahre später wurde an der Stelle eine neue Kapelle im „Zopfstil“ errichtet und dem Heiligen Laurentius geweiht. Laurentius war Diakon im 3. Jahrhundert und starb als Märtyrer. Zitzlsperger selbst kennt die Kapelle damals nur von außen, wie er sich erinnert: „Anfang der 70er Jahre wohnten wir noch in Markdorf und ich sah die Kapelle nur beim Vorbeifahren, drin war ich nie.“

Heute ist nichts mehr von der Kapelle zu sehen, lediglich eine Infotafel am Gebäude Ahauser Straße 2 des Historischen Rundgangs der ...
Heute ist nichts mehr von der Kapelle zu sehen, lediglich eine Infotafel am Gebäude Ahauser Straße 2 des Historischen Rundgangs der Gemeinde erinnert an sie. | Bild: Jan Manuel Heß

Historisch gesehen markiert der Standort der Kapelle nach aktuellen archäologischen Erkenntnissen die früheste häusliche Besiedlung Bermatingens. Im 2014 erschienenen „denkmalpflegerischen Werteplan der Gesamtanlage Bermatingen„ der Denkmalpflege Baden-Württemberg ist diesbezüglich zu lesen: „Als Keimzelle des Ortes wurde die im Unterdorf gelegene, 1971 abgebrochene Laurentiuskapelle identifiziert. Hier könnten sich die ersten Bauernhäuser in der Zeit um 500 befunden haben.“

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Ein archäologischer Perlenfund als Grabbeilage aus dem 7. Jahrhundert östlich der Kapelle belegt eine frühmittelalterliche Besiedlung in Bermatingen. Besiedlungsgeschichtlich rechnet man den Ort mit seiner typisch alemannischen Ortsnamenendung „-ingen“ der ersten Landnahmezeit der Alemannen um 500 zu. Als urkundliche Ersterwähnung gilt eine St. Gallener Urkunde vom 29. März 779.

Die Laurentiuskapelle 1911.
Die Laurentiuskapelle 1911. | Bild: Familie Wehr

Wie sehr die Kapelle im Gedächtnis der Bermatinger verhaftet war, spiegelt eine amüsante Erinnerung von Annie Sterk – eine geborene Bermatingerin – wider. „Als ich mal nach dem Weg nach Ahausen gefragt worden bin, sagte ich ganz selbstverständlich, da vorne an der Kapelle links die Straße runter, worauf der Herr mir entgegnete: Welche Kapelle?“ Obwohl die Kapelle für Annie Sterk nicht mit besonderen Erinnerungen behaftet war, gehörte sie doch irgendwie fest zum Ortsbild. „Wie es drinnen aussah, kann ich heute kaum mehr sagen. Ich meine, es war ziemlich leer“, erinnert sich die 78-Jährige.

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Marlies Keller, ebenfalls eine gebürtige Bermatingerin, kann sich noch gut an den Blumenaltar anlässlich der Fronleichnamsprozession erinnern. „Die Kapelle war halt immer da und schon ziemlich heruntergekommen von außen, aber an Fronleichnam war da immer ein schöner Blumenaltar davor aufgebaut.“

„Wie es drinnen aussah, kann ich nicht sagen“

Ansonsten entsinnt sie sich lediglich daran, dass in der Kapelle evangelische Gottesdienste abgehalten wurden. Als die Kapelle abgerissen wurde, war Elisabeth Grömminger 18 Jahre alt und wohnte schräg gegenüber. Sie glaubt sich zu erinnern, dass die Kapelle hin und wieder als Totenkapelle genutzt wurde. „Ich weiß noch, dass mein Bruder Hans Peter gerne mal versuchte, durch das Schlüsselloch einen Blick auf einen Sarg zu erhaschen, aber wie es drinnen aussah, kann ich nicht sagen, die war meistens zu.“

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Zwar ist die Kapelle heute komplett aus dem Ortsbild verschwunden, doch sind an anderer Stelle noch Hinterlassenschaften zu finden. So sind in der Pfarrkirche St. Georg zwei Leuchter mit Puttenkopf sowie eine Statue eines Verkündigungsengels ausgestellt.