Herr Siegel-Holz, wie ist die allgemeine Situation am Lehenhof?

Wir hatten in den vergangenen Wochen, wie alle Bürger, mit einer Vielzahl von neuen Verordnungen und einschneidenden Änderungen unserer gewohnten Lebensweise zu tun. Ständig hatten wir unsere Maßnahmen anzupassen, oft innerhalb von wenigen Tagen. Zunächst mussten wir unsere öffentlichen Veranstaltungen und die große Bürgerversammlung absagen, danach die Werkstätten schließen, dann die vielen Abendveranstaltungen der „Kleinen Volkshochschule“ ausfallen lassen, schließlich das soziale Leben auf unsere Hausgemeinschaften einschränken. Unser Leben ist ein völlig anderes geworden.

Dorfgemeinschaft Lehenhof

Welche Bereiche sind überhaupt von Schließungen ausgenommen?

Einige Betriebe, die zu den „systemrelevanten Bereichen“ gehören, arbeiten weiter: Der ganze Lebensmittel-Versorgungsbereich mit Landwirtschaft, Bäckerei, Gärtnerei und Käserei ist weiter in Betrieb. Ebenso bleibt der Bioladen in Untersiggingen, ohne die Bistro-Abteilung, geöffnet. Der medizinisch-therapeutische Bereich mit seiner professionellen Begleitung ist in unserer Situation ganz wichtig. Ärztin, Krankenpfleger und Arzthelferinnen vor Ort sind aktuell Gold wert. Bereiche wie Verwaltung und Hausmeisterei leisten wertvolle Arbeit, um den Einrichtungsbetrieb am Laufen zu halten. Und selbstverständlich bleiben unsere Hausgemeinschaften, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenleben, weiterhin geöffnet.

Die Bäckerei auf dem Lehenhof. Auch hier laufen die Arbeiten weiter, weil Brot dringend benötigt wird.
Die Bäckerei auf dem Lehenhof. Auch hier laufen die Arbeiten weiter, weil Brot dringend benötigt wird. | Bild: Wolf-Dieter Guip

Wie verläuft jetzt das Leben in den Hausgemeinschaften?

Der gesamte Alltag spielt sich in und mit den Hausgemeinschaften ab. Sie sind die kleinsten sozialen Einheiten, die wir sinnvoll begleiten können. In unseren Häusern werden die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen, der Haushalt erledigt, Freizeit und Wochenende gestaltet, ihre Mitglieder gehen zusammen spazieren. Die Mitarbeiter der Werkstätten, die jetzt geschlossen sind, und auch Verwaltungskräfte unterstützen während der üblichen Werkstattzeiten die Tagesbegleitung in den Hausgemeinschaften. So können die Hausverantwortlichen und Helfer ihre dringend nötigen Pausen nehmen.

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So reduzieren Sie die sozialen Kontakte auf ein mögliches Minimum?

Genau! Auch die Kontakte zwischen den einzelnen Häusern und innerhalb der Dorfgemeinschaft sind heruntergefahren. Besuche von außen sind nur in begründeten Einzelfällen möglich. Außerdem haben wir eindringlich an die Angehörigen der Dörfler appelliert, sie nicht über das Wochenende oder über Ostern nach Hause abzuholen. Sie sind im Übrigen sehr einsichtig und kooperativ.

Wie reagieren die Dörfler auf die Einschränkungen?

Für die meisten bedeuten die Veränderungen eine enorme Herausforderung! Manche sind sehr angespannt, manche extrem verunsichert. Viele andere meistern die neue Situation allerdings in bewundernswerter Weise. Normalerweise geben die gewohnten Strukturen, die tägliche Arbeit, die vielfältigen Begegnungen in der Dorfgemeinschaft und in der Gemeinde viel Sicherheit im Alltag und ermöglichen eine relativ hohe Selbständigkeit in der Lebensführung. Das alles ist weggebrochen und musste erst einmal neu sortiert werden. Viele Freiheiten sind den Bewohnern genommen. Die täglichen Kontakte zu den anderen Häusern, auf der Straße, in der Freizeit sind zum Erliegen gekommen.

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Ist die Stimmung also auf dem Tiefpunkt?

Erstaunlicherweise nicht. Ich erlebe mehr Einsicht und Vernunft bei den Dörflern, als ich es zu hoffen gewagt hätte – obwohl nicht alle Dörfler verstehen, was zurzeit vor sich geht und warum alles anders ist. Zum anderen leisten die Mitarbeiter, alle zusammen, eine hervorragende Arbeit. Ich denke, zwei wesentliche Faktoren spielen eine Rolle: zum einen die Verlässlichkeit und Vertrautheit der Mitarbeiter, die die Dörfler begleiten, zum anderen die Tatsache, dass wir bei allen Änderungen dennoch viel Struktur beibehalten beziehungsweise neue Strukturen aufgebaut haben. Beides gibt Halt, der in der jetzigen Situation, die von Ungewissheiten, Sorgen und Ängsten gekennzeichnet ist, unentbehrlich ist.

Die Arbeiten in der Gärtnerei des Lehenhofs gehen weiter: Die Auszubildenden Jennifer Moser und Paul Möbius im Gewächshaus bei der Ernte.
Die Arbeiten in der Gärtnerei des Lehenhofs gehen weiter: Die Auszubildenden Jennifer Moser und Paul Möbius im Gewächshaus bei der Ernte. | Bild: Wolf-Dieter Guip

Fühlen Sie sich gut gewappnet für die kommende Zeit?

Das ist schwer zu sagen. Wir bemühen uns, uns auf alles, was kommen kann, vorzubereiten. Kritisch wird es sicher, wenn der jetzige Ausnahmezustand zu lange andauert. In gewisser Weise herrscht im Moment auch so etwas wie Wochenendstimmung. Manche genießen es, etwas länger auszuschlafen oder weniger zu arbeiten. Erfahrungsgemäß wächst aber mit der Zeit das Bedürfnis, wieder zu den gewohnten und geschätzten Routinen zurückzukehren. Außerdem wachsen mit der Zeit auch die wirtschaftlichen Risiken. Die andere Herausforderung sehe ich in dem Moment gekommen, in dem in der Dorfgemeinschaft Corona-Fälle auftreten. Bei allem, was man im Vorfeld planen kann, ist sicher, dass wir dann noch viel mehr gefordert sein werden.

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Das klingt sorgenvoll.

Ja, aber wir sind nicht mutlos. Und wir erleben viel Unterstützung durch die Behörden und unser Umfeld. Die Kommunikation mit Landratsamt, Heimaufsicht und Bürgermeistern ist gut. Es gibt viel Verständnis für unsere schwierige Situation. Frühere Mitarbeiter und Menschen aus unserem Umfeld haben angeboten, auszuhelfen, wenn es wegen Krankheiten eng wird. Zu wissen, dass wir auch als Einrichtung nicht allein gelassen sind, wenn es noch schwerer werden sollte, schenkt uns Zuversicht.