Der Lehenhof im Verbund der Camphill-Gemeinschaften hat eine klare ganzheitliche Philosophie, die von einem anthroposophischen Menschenbild geleitet ist. Zwang wird kritisch betrachtet, Regularien dürfen kein Selbstzweck sein. Was zeichnet für Sie diese Philosophie aus?
Die Grundlage der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Lehenhof bilden die Überzeugungen, dass wir den Menschen als ganzheitliches Wesen betrachten und ihm, unabhängig von den individuellen Herausforderungen und Hemmnissen, mit denen er uns entgegentritt, auf Augenhöhe begegnen. Wir verstehen uns als vielfältiges Sozialwesen, in dem auf der Grundlage gegenseitiger Wertschätzung Inklusion gelebt wird.

In der Öffentlichkeit kommt es offenbar immer wieder zu einer Wahrnehmung, die den Lehenhof hinsichtlich der dort gelebten Überzeugungen in Verbindung mit der aktuellen Querdenker-Bewegung bringt. Wie ist Ihre Wahrnehmung dazu?
In der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Lehenhof findet sich, wie in allen sozialen
Gemeinschaften, das ganze gesellschaftliche Spektrum von Überzeugungen: von Menschen, die übervorsichtig sind, bis hin zu Menschen, die die vorgegebenen Corona-Maßnahmen für nicht richtig halten. Insofern ist der Lehenhof eine „Gesellschaft im Kleinen“.
Selbstverständlich gilt für den Lehenhof, dass die rechtlichen Vorgaben bindend sind, wie bei vielen anderen Themen auch. Diese Vorgaben setzen wir für den ganzen Lehenhof um. Dies ist ja zum Beispiel an unserem Umgang mit den Vorgaben bezüglich der Bedeckung von Mund und Nase und dem Gastronomie-Verbot in unserem Bioladen deutlich geworden. Hier gelten, wie allgemein im Einzelhandel, die Vorgaben der jeweils aktuellen Corona-Verordnung des Landes.

Bei der Umsetzung der Vorgaben haben wir insbesondere das Wohl und die besondere Lebenssituation der Bewohner und Mitarbeiter im Blick und bemühen uns, innerhalb der rechtlichen Möglichkeiten und im direkten Dialog mit den Behörden, dem Lehenhof angemessene Handlungsleitlinien zu erarbeiten und gegebenenfalls auch Freiräume auszuloten. Dazu besteht ein fortwährender Austausch mit dem Sozialamt, dem Gesundheitsamt und der Gemeindeverwaltung als Ordnungsbehörde. Über den Lehenhof hinaus besteht ein freier Austausch zwischen den Camphill-Gemeinschaften, in dem auch im Sinne einer „Best-Practice“-Haltung Informationen ausgetauscht werden.

Wie wollen Sie sich und den Lehenhof gegenüber Querdenkern, Verschwörungsgläubigen und Corona-Leugnern positionieren? In unserem vorbereitenden Gespräch grenzten Sie sich eindeutig ab. Wieso?
Der Vergleich der bundesdeutschen Demokratie mit einem totalitären Regime, mangelnde Abgrenzung gegenüber rechtspopulistischen, extremistischen, verschwörungsgläubigen oder marginalisierenden Haltungen widersprechen unseren Werten grundsätzlich und sind nicht mit den Idealen und Zielen des Lehenhofs vereinbar. Wir lehnen einseitige Interpretationen der wissenschaftlichen Forschungen ebenso ab wie pseudo-esoterische und spekulative Behauptungen. Wir befürworten auch in der Pandemie eine Haltung, die das eigene, kritische Denken ebenso ernstnimmt wie die Verantwortung jedes Einzelnen für seinen Nächsten und die sich weder von Panikmache noch von Ignoranz mitreißen lässt.
Zuletzt eine ganz praktische Frage: Wie gehen Sie auf dem Lehenhof mit den teils strikten Verordnungen von Bund und Land in der Pandemiesituation um? Als Einrichtung für gehandicapte Menschen befinden Sie sich ja in einer ganz besonderen Situation.
Neben dem oben bereits Ausgeführten befinden wir uns innerhalb der Einrichtung in einem kontinuierlichen Ringen um die Erhaltung der physischen wie auch der psychischen Gesundheit der Menschen, insbesondere der von uns begleiteten Menschen mit Assistenzbedarf. Die Corona-Maßnahmen und -Verordnungen mögen da nicht immer unmittelbar und für jeden nachvollziehbar sein. Auch müssen wir mit Widersprüchen umgehen: Gerade für Menschen mit Behinderung haben die sozialen Kontakte eine besonders große Bedeutung.

Wie in Lebensbereichen anderer Menschen mit Hilfebedarf, zum Beispiel in der Altenpflege, führen die Maßnahmen aber zu massiven Einschränkungen der sozialen Kontakte, der Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Gerade bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen treten dabei immer wieder auch Unverständnis oder Widerstand auf. Hier suchen wir im Dialog mit den zuständigen Behörden nach hilfreichen Lösungen. Natürlich nehmen wir unsere Verantwortung für die begleiteten Menschen mit Assistenzbedarf sehr ernst. Insofern bemühen wir uns seit Beginn der Corona-Pandemie, die erforderlichen Maßnahmen in sinnvoller Weise umzusetzen.