„Ich habe mein ganzes Leben lang nach vorne geschaut“, sagt Manfred Sauter zur Begrüßung, „aber jetzt, mit Putins Angriff auf die Ukraine, kommt alles wieder. Ich habe selten Angst gehabt in meinen 86 Jahren. Aber jetzt, jetzt habe ich sie.“ Manfred Sauter, in Friedrichshafen als „Mr. Zeppelin“ bekannt, ist ein Kriegskind.
Als Hitlers Wehrmacht Polen überfiel, war Manfred Sauter vier Jahre alt. Seine gesamte Kindergarten- und Grundschulzeit über tobte der Zweite Weltkrieg in Europa, Väter und Brüder von Klassenkameraden fielen an der Front und 1943 kam er in Form von Fliegeralarmen und einzelnen Luftangriffen und später auch schweren Bombardierungen in Friedrichshafen an. Der Mann, der später leitender Angestellter bei der heutigen Zeppelin GmbH wurde und den Freundeskreis des Zeppelin-Museums gründete, saß damals als Neunjähriger im Keller und bangte um sein Leben.
„Wenn ich diese Bilder aus Kiew sehe, wie Menschen in U-Bahn-Schächten sitzen oder fliehen müssen, schlaucht mich das sehr“, sagt Sauter und nimmt einen Schluck aus dem Bierkrug. Das Treffen findet im Zeppelin-Museums-Restaurant statt – wo sonst? Manfred Sauter hat Bilder von damals mitgebracht. Schwarz-weiß-Fotografien der zerbombten Stadt. Erinnerungen einer deutschen Kriegskindergeneration, von der es nur noch wenige gibt. Bilder einer Kindheit, die lange verdrängt, aber nie vergessen wurden.

„Wir hatten Schule, jeden Tag“, erinnert sich der Zeppeliner, der gemeinsam mit seiner Familie in der heutigen Keplerstraße, damals Gehringstraße, in der Häfler Nordstadt lebte. Sein Vater war Meister in der Luftschiffbau Zeppelin und galt daher als „unabkömmlich“. Manfred Sauter besuchte die Pestalozzi-Schule (früher: Horst-Wessel-Schule) direkt um die Ecke in der Allmandstraße. Jungs und Mädchen lernten getrennt. „Wenn es Fliegeralarm gab, wurden wir nach Hause geschickt“, sagt Sauter.
Nur einmal, da habe es nicht mehr gereicht und alle rannten in den Luftschutzkeller im Mädchentrakt. Später liefen sie nach Hause, direkt an einem frischen Bombenkrater vorbei. Es muss im Juni 1943 gewesen sein, als Friedrichshafen zum ersten Mal angegriffen wurde. Das Ziel der Alliierten: der Betrieb, in dem Sauters Vater arbeitete. Denn dort wurden unter anderem Teile der Großrakete „Aggregat 4“, besser bekannt als „Vergeltungswaffe V2“, angefertigt. „Er hatte oft Bereitschaftsdienst, auch nachts. Wir wussten nicht: Kommt er wieder?“, sagt Sauter.
Maybach, Zahnradfabrik, Luftschiffbau, Dornier – die Kriegsindustrie geriet ins Visier
Maybach, die Zahnradfabrik, Luftschiffbau und Dornier – in Friedrichshafen saßen Unternehmen, die Hitlers Krieg mit Kriegsmaschinerie am Laufen hielten. Das brachte der Zeppelinstadt Bombardierungen und Luftangriffe ein, die es in keiner Stadt in der Bodenseeregion in dieser Stärke gegeben hat. Viele Häfler verbrachten ihre Kindheit in den Kellern dieser Stadt, manche auch in überirdischen Bunkern, beispielsweise im sogenannten Heldenbunker in der heutigen Schanzstraße.


Am 28. April 1944 flogen rund 185.000 Brandbomben auf die Stadt, hinzu kamen Sprengbomben und Luftminen. „Wir schliefen zu dieser Zeit immer in unseren Leibchen mit Strümpfen“, sagt Sauter, „sodass wir uns nur schnell die Hosen drüberziehen mussten, wenn der Fliegeralarm losging.“ Die Mutter habe stets eine Tasche gepackt mit etwas Vesper, Wasser, ein paar „Teppichen“, wie die Schwaben Decken damals nannten.

Familie Sauter rannte in den Keller des Sechs-Familien-Hauses, wie schon so oft zu dieser Zeit. Die Keller waren zusätzlich mit Balken abgestützt, die Fensterschächte mit Betonläden verriegelt. „Da saßen dann alle in ihren Kellerabteilen, flüsterten durch die Lattenrost-Wände“, erinnert sich Sauter, „normalerweise flackerte ein Kellerlicht. Aber in dieser Nacht wurde es dunkel.“ Irgendwas sei anders gewesen als sonst. „Es hat furchtbar geruckelt, wir haben alle gezittert. Dann riss die Kamintür unten auf, alles war voller Ruß. Unser Vater hat uns nasse Lappen gegeben, die meine kleine Schwester und ich uns vor den Mund halten mussten, um atmen zu können. Wir haben nur noch gebetet.“ In all den Kriegsjahren zuvor habe er keine Angst gehabt. Aber in dieser Nacht übermannte sie ihn.
Als sich nach etwa 50 Minuten Bombardierung die Stille über die Nacht legte, versuchten zunächst die Männer aus dem Keller zu kommen. Teile des Hauses lagen in Schutt, überall loderten Flammen. „Wir kamen raus und es war taghell, obwohl es noch mitten in der Nacht war“, berichtet Sauter. Seine Augen füllen sich. „Ich dachte, es stürmt draußen, aber das war der Wind, der durch die Flammen entstand. Wir standen mitten im Feuersturm.“ Große Nachbarhäuser brannten – so wie die ganze Altstadt auch. Friedrichshafen war ein Trümmerfeld. In dieser Nacht verloren 136 Menschen ihr Leben und viele Tausend ihr Zuhause.

Der Vater brachte die beiden Kinder – Manfred und seine bereits verstorbene Schwester – am Tag darauf nach Aulendorf zu Verwandten in Sicherheit. „Meine Eltern blieben in Friedrichshafen, machten sich ein Zimmer in der kaputten Wohnung zurecht“, erzählt der 86-Jährige. Beim zweiten schweren Luftangriff am 20. Juli 1944, diesmal durch die US-Streitkräfte, wurden die Eltern in ihrem Keller verschüttet. „Im Keller waren meine Tante Paula, die mit ihrem Mann im gleichen Haus wohnte, deren Sohn Ludwig, der gerade zum Genesungsurlaub von der russischen Front kam, meine Eltern und zwei Nachbarinnen.“
„Unsere Eltern wurden am 20. Juli 1944 aus den Trümmern gezogen.“Manfred Sauter, Kriegskind, Jahrgang 1935
Als die Kinder die Nachricht vom Angriff auf Friedrichshafen hörten, versuchten sie Kontakt zu den Eltern aufzunehmen. „Mein Vater hatte ein Werkstelefon, das wir im Notfall anrufen durften, aber da waren die Leitungen alle tot.“ Am Tag darauf warteten die Kinder am Bahnhof Aulendorf – in der Hoffnung, die Eltern kommen aus der Stadt. Niemand kam. „Dann gab es einen Anruf aus dem Krankenhaus Ravensburg. Unsere Eltern haben verletzt überlebt. Sie wurden zusammen mit meinem Onkel aus den Trümmern gezogen“, sagt Sauter. Tante Paula, Cousin Ludwig und die beiden Nachbarinnen starben.
Auf dem Hauptfriedhof reihte sich Sarg an Sarg
Kurze Zeit später fuhr Manfred Sauter als Neunjähriger mit seinem Onkel aus Aulendorf nach Friedrichshafen auf den Friedhof. Jemand musste die Leichen identifizieren. „Unter den Arkaden des städtischen Friedhofs standen reihenweise Särge, viele waren offen. Tante Paula hatte ihr Handtäschle auf dem Schoss liegen. Darin waren Lebensmittelkarten, die wir dringend brauchten“, sagt Manfred Sauter. Dann versiegt seine Stimme. Die Tränen laufen. 77 Jahre später. Es sind Bilder, die ein Kind niemals sehen sollte. Die ein Kind nie vergessen wird, auch wenn es noch so resilient ist. Bilder, die sich seit 1945 in Deutschland bis heute zum Glück nicht wiederholt haben, aber dafür anderswo auf der Welt – wie im Moment in der Ukraine.
Warum kommen sie ausgerechnet jetzt hoch, diese alten Bilder? Jugoslawien, Irak, Syrien – es gab doch schon öfter grausame Kriege seit 1945? „Vielleicht ist es egoistisch, aber jetzt ist er so nah, der Krieg“, antwortet Sauter, „und die Angst vor Putin schwingt mit. Es darf auf keinen Fall einen Dritten Weltkrieg in Europa geben. Niemals.“