Frau Wosnitzka, anders als sonst habe ich Sie nach unserem kurzen Vorgespräch zunächst nach ihrem Lebenslauf gefragt. Auf meine Frage nach Ihren Hobbys haben Sie geantwortet, dass dieser Bereich bei Ihnen mit der Arbeit verschwimmt, da sie als DJ und Theatermacherin tätig sind. Ein Hobby aber hat mich überrascht. Sie sagten: Lernen. Was haben Sie zuletzt gelernt?

(Lachend) Das klingt ein bisschen nach Streberin, oder? Vielleicht könnten wir kompromisshalber sagen, dass ich freizeitmäßig neugierig bin? Überrascht hat mich kürzlich, dass alles, was ich mit dem Begriff „Anarchismus“ verbinde, eigentlich wenig zu tun hat damit…

Unser Interview fängt ja gut an. Aber was war Anarchismus bisher für Sie?

Ich habe damit Chaos assoziiert. Jeder und jede macht, was er oder sie will.

Und jetzt? Was haben sie Neues gelernt?

Dass das Bild, das in der Öffentlichkeit gezeichnet wird – Unordnung, Gewalt, Anti-Demokratie – kaum etwas damit zu tun hat, wofür Anarchisten seit dem 19. Jahrhundert eintreten. Es geht eigentlich ums Gegenteil: Anarchismus ist nicht Chaos, sondern Abwesenheit von staatlicher Gewalt. Wie können wir solidarisch miteinander leben? Brauchen wir dafür Autoritäten? Was machen Machtstrukturen mit uns? Ich finde, das sind sehr aktuelle Fragen.

Das könnte Sie auch interessieren

Und der Anarchismus bietet da Rezepte?

Vielleicht keine, die wir heute ohne Weiteres übernehmen könnten. Aber diese Fragen scheinen mir immer noch dringlich. Gerade in einer Zeit, in der so viele sich wieder an Autoritäten anlehnen wollen, wo Nationalstaaten, das staatliche Machtmonopol oder die Polizeigewalt gestärkt werden. Da finde ich die Beschäftigung mit machtkritischen Theorien wie dem Anarchismus sinnvoll. Anarchismus ist für mich ein Suchbegriff und ein kritischer Daseinszustand.

Ok, soweit unser Ausflug in die Welt der politischen Ideen. Doch zurück zum Lernen. Sie studieren in Polen. Unterrichtssprache ist, wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, Polnisch. Das ist doch sicherlich eine Herausforderung?

Das kann man so sagen. Die polnische Sprache ist jetzt nicht die leichteste.

Inwiefern?

Die Grammatik unterscheidet sich wesentlich von der deutschen. Wir haben vier Fälle, im Polnischen sind es sieben. Selbst die Namen werden gebeugt. Es gibt eine andere Sprachlogik. Sie scheint mir emotionaler und viel mehr umschreibend.

Was hat Sie gereizt, Polnisch zu lernen?

Dieses schöne Zischen. Die vielen Konsonanten und ihr Klang. Je mehr ich mich mit der Sprache befasse, umso mehr Schönheit entdecke ich. Es gibt da so eine Art Sehnsucht.

Wie sind Sie dem Polnischen begegnet?

Meine Familie väterlicherseits stammt aus Oberschlesien. Irgendwann wollte ich mehr über dieses Gebiet erfahren. Wurde denn in Oberschlesien nicht Deutsch gesprochen?
Während meine Großeltern dort lebten, waren dort mindestens drei Sprachen gegenwärtig: Polnisch, Deutsch und Schlesisch. Eben das hat mein Interesse geweckt – die kulturell-hybriden Formen, dieses Sich-Berühren und die Zwischenräume.

Das könnte Sie auch interessieren

Und wo haben Sie dann Polnisch gelernt?

Ich habe 2017 ein Sprachstipendium bekommen und durfte in Lublin ein halbes Jahr Polnisch lernen.

Frau Wosnitzka, Sie sind als DJ tätig, aber Sie sind auch als Performance-Künstlerin aufgetreten?

Ja. Aber das ist im Kontext mit meiner Theaterarbeit zu sehen. Im Studium in Hildesheim haben wir ein Theaterkollektiv gegründet, das sich abseits des Regietheaters mit performativen Kunstformen beschäftigt. Es geht um Theaterräume, die ästhetische Erfahrungen ermöglichen, Atmosphären herstellen und Interaktion mit dem Publikum. Wir spielen auf der Bühne keine Rolle. Ich trete als ich selbst auf, nicht als Schauspielerin, die eine ihr fremde Person spielt.

Können Sie Ihre Bühnenauftritte etwas näher beschreiben?

Ein Beispiel wäre eine thematische Arbeit über Licht und Dunkelheit. In der westeuropäischen Kulturgeschichte verbindet sich Nichtwissen mit Dunkelheit und Erhellen, Aufklären mit Licht. Wir haben versucht, es umzudrehen beziehungsweise die eindeutige Zuordnung aufzuheben. Also haben wir unverständliche Dinge in den Hellphasen gespielt und Nachvollziehbares in den lichtlosen Partien.

Und so etwas kommt an beim Publikum?

Sofern sich die Zuschauer auf solche Arbeiten einlassen mögen und nicht lieber die hundertste „Räuber“-Inszenierung sehen wollen. Aber nichts gegen Schiller...

Mit dem öffentlichen Raum haben Sie sich auch befasst in Ihrer künstlerischen Arbeit. Können Sie bitte mehr darüber erzählen?

Wir haben dabei Apps programmiert für interaktive Stadtrundgänge per SMS. Wobei nicht die üblichen Orte gezeigt werden sollten, sondern absurde Ecken oder solche, die man gern übersieht. Zum Beispiel einen winzigen Glaskasten neben einem riesigen Hochhaus im Hamburger Bankenviertel. Dort „darf“ man rauchen. Wir haben die Teilnehmenden dorthin geführt und sie dazu ermuntert, mit einem der dort rauchenden Bankangestellten ins Gespräch zu kommen.

Wenn Sie eine ähnliche App für Markdorf programmieren wollten, welche Orte würden da begegnen?

Schwierig. Dafür müsste erst mal recherchiert werden…

Verfolgen Sie aus der Ferne, was hier in Markdorf geschieht?

So gut es geht. Ich bin nicht in allen Bereichen auf dem Laufenden. Aber bei den großen Themen will ich schon wissen, wie sich die Dinge entwickeln.

Zum Beispiel?

Der Entscheid zum Bischofsschloss. Das hat mich schon erstaunt, wie die Markdorfer damit umgegangen sind. Dass es da eine so starke Polarisierung gegeben hat und sich die Stadt in zwei Lager geteilt hat.

Wir sollten noch auf Polen zu sprechen kommen. Was begegnet Ihnen beim Studium im ehemaligen Posen? Erfahren Sie das deutsch-polnisches Verhältnis als belastet?

Zunächst begegnen mir ja die Stereotype über Polen schon hier bei uns. Erzähle ich jemandem, dass ich in Poznan studiere, kommt oft die Frage, warum ausgerechnet dort und nicht in einer schicken Stadt, etwa in Bologna oder Amsterdam. In Polen dann bin ich vor allem „die Deutsche“ – ob ich will oder nicht. Ich erfahre zwar keinen direkten Ausschluss, aber ich gehöre auch nicht dazu. Bei aller Freundlichkeit bleibt eine Skepsis spürbar. Insofern ist das Wort „belastet“ vielleicht zu verallgemeinernd, oder es beschreibt die bilaterale Politik, aber eine wechselseitige polnisch-deutsche Nachbarschaft ist auf alle Fälle keine Selbstverständlichkeit. Auch wenn es viele Menschen gibt, die daran arbeiten, würde ich sagen, es herrscht ein Ungleichgewicht. Vor allem in der Erinnerungskultur. Es gibt so gut wie keine polnische Familie, die nicht mindestens eine nahestehende Person durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik verloren hat. Das ist in Polen immer noch wirkmächtig, in Deutschland hingegen kaum im kollektiven Gedächtnis verankert.

Das könnte Sie auch interessieren

Was haben Sie vor, wenn Sie fertig sind mit Ihrem Studium?

Ich wünsche mir, einen Platz irgendwo in den deutsch-polnischen Beziehungen zu finden – ob in der Wissenschaft oder in der Kultur.