Die Liste der Taten von „Hans“ ist lang. Über fünf Minuten dauert die Verlesung der 59 Anklagepunkte mit jeweils spezifischem Schaden. Der Angeklagte hört dem Staatsanwalt genau zu, ebenso wie die Besucher im voll gefüllten Saal 1.60 des Landgerichts Konstanz. Sogar ein Kamerateam ist vor Ort. Der 41-Jährige trägt Glatze, weiße Turnschuhe und einen Pullover mit lockerem Kragen. In diesen sollte er sich während der Verhandlung noch oft hinein grummeln. Außerdem schaut er öfter auf seine Uhr und lässt seine Augen nervös durch den Saal schweifen. Er sieht aus, als fühle er sich verfolgt.

Der Angeklagte zerkratzte 59 Autos. Vor allem der Name „Hans“ wurde auf mehreren Fahrzeugen in den Lack gekratzt.
Der Angeklagte zerkratzte 59 Autos. Vor allem der Name „Hans“ wurde auf mehreren Fahrzeugen in den Lack gekratzt. | Bild: Polizeirevier Überlingen

Ein etwas anderer Fall

Schnell wird deutlich: Nicht nur die Straftaten, sondern auch der Angeklagte sind besonders. Laut eigener Aussage wuchs er in einem behüteten Elternhaus auf. Aber seine Eltern hätten rassistische Tendenzen und das habe er sich abgeschaut. Mit 15 Jahren habe er nach dem Hauptschulabschluss eine Ausbildung als Orthopädietechniker begonnen. Danach wechselte er alle zwei bis drei Jahre seine Firmen, und damit auch seinen Wohnort. In Albstadt, Ulm, Neu-Ulm, Reutlingen, Engen und Überlingen habe er gewohnt.

Mittlerweile sei er seit über einem Jahr in einem Altenpflegeheim tätig. Dort arbeitet er von 13 bis 21 Uhr. Findet er gut, sagt er. Er ist eher ein Nachtmensch. Im Sommer schwimmt er gerne. Im Winter spielt er dagegen eher viele Videospiele auf der Playstation. Vor allem Killerspiele, um sich abzureagieren. Auf die Frage, warum er das spiele, antwortet er: „Na es gibt ja einen Grund, warum sich das verkauft.“ Man dürfe in Wirklichkeit ja keine Leute erschießen. „Wenn man das machen dürfte, würden das glaub‘ ich alle machen.“

Der Angeklagte hat Angst vor seiner Post

Seine Eltern leben an der Nordsee, mit ihnen hat er nur sporadisch über das Smartphone Kontakt. Seine Geschwister leben in Baden-Württemberg, die sieht er öfter. Aber sie kämen nicht mehr zu ihm nach Überlingen. Dort lebt er zur Miete auf ungefähr 28 Quadratmetern. Mehr kann er sich mit 1400 Euro Nettogehalt nicht leisten. Er hat Schulden und kein Internet. Außerdem zahlt er eine gerichtliche Strafe ab. 50 Euro im Monat. Seit zwei bis drei Monaten macht er die Post nicht mehr auf. Er hat Angst, was drinsteht.

Der Täter konsumiert Cannabis

Bei der Hausdurchsuchung, bei der verschiedene Lacksplitter der zerkratzen Autos in seinen Hosentaschen, sowie ein Schlagring und eine Armbrust gefunden wurden, staunten die Beamten außerdem nicht schlecht über eine große Anlage zur Cannabis-Aufzucht. 13 Pflanzen hatte er. Er stehe dazu, dass er kifft. Er sehe keine Veranlassung dafür aufzuhören. Er kiffe ungefähr drei Monate im Jahr täglich. Im Januar wegen Silvester, im April wegen seinem Geburtstag und im Sommer, um seine Batterien wieder aufzuladen. Aber Alkohol trinke er dafür fast keinen.

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Außerdem nimmt er manchmal Schlaftabletten. „Die da draußen“ vor seinem Fenster würden sich die ganze Nacht die Seele aus dem Leib schreien und ihn vom Schlafen abhalten. Er empfindet das als gezielte Folter. „Schlafentzug ist heftig, das geht in den Kopf. Und irgendwann kriegst du eine Klatsche“, sagt er. Es seien „immer die gleichen Leute“, die ihn fertig machen wollen. Die schmeißen auch Steine durch seine Fenster, sagt er. Konkretisieren kann er das nicht. Er verweist außerdem auf einen ehemaligen Arbeitskollegen, einen gewissen Hans. Dieser Hans habe ihn immer mit dem gleichen Spruch gemobbt. Deswegen habe er die Firma verlassen. Aber der Spruch verfolge ihn bis nach Überlingen. Auch dort würden die Leute hinter seinem Rücken flüstern. Er bezeichnet das als Schamfolter.

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Ein Polizist und seine Ex-Freundin werden vernommen

Nach dem ersten Zeugen, einem Polizisten der Ermittlungsgruppe „Hans“, wird die Ex-Freundin verhört. Ihr neuer Freund nimmt hinten im Saal Platz. Seit 15 Jahren sei sie immer wieder mit dem Angeklagten zusammen gewesen. Aber er sei immer cholerischer geworden, obwohl er eigentlich ein „netter Kerl“ sei. Er sei auf alle Menschen sauer und glaube an ein Komplott gegen ihn. Er bezeichnet das als „Weiße Folter„, fühle sich verfolgt. Das sei immer schlimmer geworden. Als sie sich trennte, weil er sie für alles beschuldigte und wegen jedem kleinen Fehler ausflippte, sei er nach Ulm gefahren und handgreiflich geworden.

Darauf folgt die Diagnose des psychologischen Sachverständigen, Dr. Urban Hansen aus Friedrichshafen. Der Angeklagte leide unter paranoider Schizophrenie und unter Wahnvorstellungen. Er fühlt sich von verschiedenen Personen verfolgt und habe seine Wahnideen systematisiert, sie aufeinander bezogen. Nach dem Schlafmangel wurde das handlungstreibend und hat maßgeblich zur Begehung der Taten beigetragen, so die Begutachtung des Sachverständigen. Des Weiteren diagnostiziert der Facharzt für Psychologie eine Cannabisabhängigkeit, das könne paranoide Ängste weiter verstärken und zu Depression führen. Und diese liege laut seinem Gutachten vor, sei jedoch nicht nur rein drogeninduziert, sondern eine überdauernde, krankhafte, seelische Störung, die seine Handlungsfähigkeit beeinträchtige. „Ich bilde mir das nicht ein. Ich spinne nicht, das passiert alles wirklich“, sagt der Angeklagte im Widerspruch.

Der Angeklagte wird freigesprochen

Nach der Verlesung der Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidiger verliest der Richter das Urteil. Der Angeklagte wird aufgrund von Schuldunfähigkeit freigesprochen. Eine Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt wurde nicht verhängt. Als Bewährungsauflage wurde er allerdings dazu verurteilt, sich regelmäßig in einem psychiatrischen Krankenhaus behandeln zu lassen. Der Freispruch erfolgt durch das psychiatrische Gutachten, das nicht nur fehlende Einsichtsfähigkeit, sondern auch Steuerungsfähigkeit seiner Taten diagnostiziert. Dadurch liege keine strafrechtliche Verantwortlichkeit vor. Der Richter hat Hoffnung, dass der Angeklagte die Bewährung schafft und an sich arbeitet. „Was Ihnen jedoch fehlt, ist die Überzeugung, dass Sie krank sind. Damit müssen Sie sich auseinandersetzen“, sagt der Richter.

Wenn der Angeklagte die Bewährungsauflagen nicht einhält, werde eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung angeordnet. Die Bewährung ist auf drei Jahre festgesetzt. Der Angeklagte wird angewiesen, eine medikamentöse, psychiatrische Behandlung durch einen Therapeuten durchführen zu lassen. Am Schluss zitiert der Richter die eigenen Worte des schizophrenen Täters: „Ein Mann, ein Wort. Das haben Sie selbst gesagt. Zeigen sie uns, dass Sie es ernst meinen.“