
Kein Narrenmarsch, kein Gejohle. Doch immerhin war die Glocke weithin zu vernehmen, die Narrenpolizist Peter Graubach schwang, als er Oberbürgermeister Jan Zeitler seines Amtes enthob.
Schmotziger Donnerstag in Überlingen: Normalerweise ist das ein riesiges Spektakel. Im Coronajahr 2021 beschränkt sich die Narretei auf die kleinen feinen Dinge – sie sind eine Art Bypass, der das Kulturgut Fastnacht bis zum nächsten Jahr am Leben hält.
Während in normalen Jahren am Schmotzigen Donnerstag Schüler aus ihren Klassenzimmern befreit werden, verteilten in diesem Jahr findige Lehrer Carepakete, gefüllt mit Luftschlangen und Bonbons. Die Schülerinnen und Schüler saßen verkleidet im Homeschooling, man rief sich über das Online-Meeting ein Juhu! zu – so fröhlich es eben ging. Die Verkäuferinnen an der Kasse im Edeka verkleideten sich ebenso, wie auch manche Mäschgerle verschämt durch die Stadt juckten.
Hinterm Rathaus war um 10.30 Uhr lautes Gebimmel zu hören. Narrenpolizist Peter Graubach kam im Auftrag der Narreneltern, um den Oberbürgermeister die Absetzungsurkunde zu überbringen. Den Rathausschlüssel konnte Narrenpolizist Peter Graubach irgendwie an sich bringen. Der Oberbürgermeister gilt damit als abgesetzt – bis Aschermittwoch.
Zeitler ließ sich zwar bereitwillig vom Amt absetzen, wollte sich im Zusammenhang mit der Absetzungszeremonie aber nicht am Rathaus zeigen. Denn der OB befürchtete, dass das eine verbotene Menschenansammlung provozieren könnte, wenn er sich dort in der Öffentlichkeit blicken ließe. Dieses Foto entstand mit dem außer Dienst gesetzten OB in sicherer Entfernung am Mantelhafen.
„Mein Fasnetsküchle ist mir aus der Hand gefallen“, berichtet Zeitler über seine Reaktion, als er vom Absetzungsbefehl erfuhr, den die Narreneltern über den SÜDKURIER pünktlich zum Schmotzigen Donnerstag ankündigten.
Zeitler für die Vernunft der Leute dankbar
Die Realität im Coronajahr sieht allerdings etwas anders aus. Zeitler: „Es ist für mich eine etwas bedrückende Situation, wenn man sich vor Augen hält, was sonst auf der Überlinger Hofstatt und im ganzen Stadtgebiet los ist, wenn das Rathaus gestürmt wird. Ich bin allen Narrenzünften dankbar, dass wir dieses Jahr Vernunft walten lassen, und verspreche schon heute, dass wir Vieles nachholen werden.“
Zeitler spürt Enttäuschung in der Stadt
Außerdem teilte Zeitler dem SÜDKURIER mit: „Mir persönlich geht der heutige Tag stärker aufs Gemüt, als ich erwartet hatte: Man spürt die Enttäuschung in der Stadt und wird sich der Bedeutung unserer wunderschönen Überlinger Fasnet bewusst.“
Sogar eine Sehnsucht nach dem Dorferschoppen
Er selbst lasse sich dennoch in närrische Stimmung versetzen, so gut das eben in diesem Coronajahr geht. Zeitler: „Ich habe in den letzten Tagen noch das ‚Best of Narrenkonzert‘ mit Jens Fräntzki und Stefan Mayer online angeschaut, die Fahne vom Frauenkaffee hängt bei uns zu Hause und ich verspüre sogar etwas Sehnsucht nach dem Dorfer – und das will was heißen!“
Der OB kündigte an, dass er sich übers Wochenende diverse Online-Zusammenfassungen der Überlinger Fasnet in den vergangenen Jahren anschauen werde, „um doch etwas Überlinger Fasnet zu erleben“. Zeitler: „Ich wünsche allen Überlingern eine glückselige Fasnet – auch wenn es dieses Jahr allen sehr schwer fällt.“
Es kommt auf die Perspektive an: Auch wenn sich die Fastnacht im Coronajahr 2021 ganz klein machen muss, wirken diese Narrenbäumle auf der Hofstatt zumindest auf dem Foto so hoch wie das Rathaus.
Während Zeitler der echten Fastnacht schon vor dem Aschermittwoch nachtrauert, findet auf der Hofstatt im ganz kleinen Rahmen eine echte Fastnacht statt. Oder sagen wir, eine allefänzige, inszeniert von Thomas Pross.
Er trägt keine Narrenkappe und auch keine Tracht, damit signalisiert Pross, dass er nicht als Chef der Narrenzunft, sondern als Privatmann auf die Hofstatt kommt, um dort ein „Trostnarrenbäumle“ zu setzen. Er widmet es der Narrenmutter, „und allen kleinen und großen Narren“.
Die Aktion von Thomas Pross und seinem Bruder Andreas Pross steht unter der Überschrift „Für die schonungslose Wiederaufforstung der Hofstatt: Rettet den süddeutschen Narrenbaum.“ Andreas Pross trug sein Narrenbäumle eher bedächtig und ohne die Klänge des Narrenmarschs auf die Hofstatt.
Narrenvater Thomas (Puna) Pross, im normalen Leben Architekt, sagte: „Wir haben unser Bestes getan.“ Es fühle sich einfach nur komisch an, dieser Schmotzige. Seit seinem Studium, als er Prüfungen absolvieren musste, habe es für ihn keinen Schmotzigen Donnerstag mehr gegeben, die nicht auf der Gass stattfand. Er drückte seine Gefühle in einer Karikatur aus. Was tun, wenn künftig niemand mehr weiß, wie Narrenbäume aufgestellt werden?
Nun blickt die Überlinger Narrenzunft optimistisch auf die Fastnacht 2022. An der Rathausfassade hängte die Zunft dieses Banner auf: Jetz isch Fasnet: Au wenn de Globus hot en Sparre, giehts e Lichtle für uns Narre! Fasnet, Juhu: Wieder jucke – schnurre, so homers vor! Scho gohts dagege – ufs nägschte Johr.