„Der Schöpfungsmythos wird von jeder Generation neu interpretiert“, sagt Gunter Schöbel. Das gelte für jede Wissenschaft – und auch für das Pfahlbaumuseum in Unteruhldingen, das Schöbel seit 1990 leitet und dessen Geschichte er seither fortlaufend aufarbeitet. Frühere Versionen dieses Mythos hatten unter anderem den damaligen Überlinger Oberamtmann (Landrat) Hermann Levinger nur als ersten, einflussreichen Fürsprecher beschrieben, wie es Archäologe Hans Reinerth (1900 bis 1990) ausdrückte, der diesen Ruhm gern für sich beanspruchte.

Hermann Levinger auf Gedenkstein
Doch Schöbel nannte Levinger 1997, als zum 75. Jubiläum der Pfahlbauten ein Gedenkstein zu Ehren der Gründer enthüllt wurde, erstmals als Ideengeber und Promotor an vorderster Stelle.

Gemeinsam mit ihm finden sich auf dem Stein der Unteruhldinger Bürgermeister Georg Sulger (Forscher und Umsetzung), der Kunstmaler und Gründer des Überlinger Museums Victor Mezger (Bodenseegeschichtsverein und Archivar) und Robert Rudolf Schmidt (wissenschaftliche Grundlagen und museumspädagogische Gestaltung).



Selbstmord in Wiesbaden, um der Deportation in KZ zu entgehen
Dass Levinger lange Zeit nur in einer Nebenrolle vorkam, hat viel mit seinem späteren Schicksal zu tun. Der verdiente und angesehene Amtsvorstand evangelischer Konfession war jüdischer Herkunft und nahm sich im Dezember 1944 im Alter von 78 Jahren gemeinsam mit seiner Tochter Barbara in Wiesbaden das Leben, um der drohenden Deportation ins Konzentrationslager zu entgehen. Von 1908 bis zu seiner Pensionierung 1930 war er Amtsvorstand des Bezirksamts Überlingen, 1924 erhielt er den Titel Landrat.
Zum 70. Geburtstag von Georg Sulger wurde ihm die Idee zugeschrieben
Im Mai 1937 schickte Levinger Landrat Rudolf Maier die bezirksamtlichen Akten über die Unteruhldinger Pfahlbauten zurück, die Levinger sich zur Unterstützung meines Gedächtnisses ausgeliehen hatte, wie er im Begleitschreiben festhielt. Der Anlass war der 70. Geburtstags von Altbürgermeister „Freund Sulger“, bei dessen Würdigung gesagt worden sei, dass die Pfahlbauten seiner Anregung entsprossen seien. Letzteres sei unrichtig, so groß Sulgers Verdienste um die Pfahlbauforschung und die Uhldinger Rekonstruktion auch seien. Doch Levinger betont: „Die Anregung zur Erstellung der ersten beiden Häuser gerade in Unteruhldingen ging vielmehr allein und ausschließlich von mir aus.“
„Aus einem nicht ganz unbegründeten Gefühl der Kränkung heraus“
Levinger rekapituliert die Entstehungsgeschichte und begründet, warum er das alles geschrieben habe, auch wenn er seinem alten Freund Sulger alle Ehren zum 70. Geburtstag gönne: „Ich bekenne offen, zunächst aus einem wohl nicht ganz unbegründeten Gefühl der Kränkung heraus, dass meine Arbeit und mein Mühen auch um diese Sache nicht mehr anerkannt wird.“
Mehr, als dass man einen Auszug seiner Ausführungen eventuell zu den Akten wolle, erwarte er auf keinen Fall, schreibt Levinger und kommt zum bitteren Ende: „Weder Sie noch Sulger können und dürfen zu der unter den heutigen Verhältnissen geradezu grotesk wirkenden Aufklärung die Hand bieten, dass der Vater und erste Verfasser des Gedankens, in der Zeit Deutschlands tiefster Erniedrigung die bodenständige Kultur der Vorzeit wieder sichtbar werden zu lassen, das Unglück hat, nach der geltenden gesetzlichen Bestimmungen Nichtdeutscher zu sein.“
Der ehemalige Landrat berichtete schon 1936 von zunehmender Ausgrenzung
Bereits in einem Brief vom 10. März 1936, in dem Levinger Georg Sulger für die Einladung zur Hauptversammlung des Pfahlbauvereins dankte, berichtete der ehemalige Landrat von zunehmender Ausgrenzung. „Ich war noch nie so dankbar für die Einladung wie in diesem Jahr“, schreibt Levinger. Denn eine ganz Anzahl von Vereinen, denen er angehörte und die er teils sogar gründen half, habe ihn „stillschweigend aus ihren Listen gestrichen“.

„Eine der schönsten Erinnerungen meiner einstigen Wirksamkeit“
Dass der Pfahlbauverein dies noch nicht getan habe, „wirkt wahrhaft tröstlich auf mich“, auch wenn es vielleicht einmal anders komme. „Mag es aber kommen, wie es will, oder muß, der Verein wird mir immer lieb und teuer bleiben und das Bewußtsein, mit Ihnen zusammen die Idee einer Pfahlbaurekonstruktion in Unteruhldingen ausgeheckt zu haben, eine der schönsten Erinnerungen an meine einstige Wirksamkeit.“ Laut Gunter Schöbel schloss der Pfahlbauverein Levinger niemals aus.