Die Autorin hat die Wohnungslosen Ende Januar 2020 im Haus Benedikt der AJG-Wohnungslosenhilfe des Landkreises Waldshut im Waldshuter Stadtteil Schmitzingen getroffen. Insgesamt beteiligten sich zehn Betroffene an den Gesprächen. Nicht jeder wollte sich zu jedem Thema äußern. Manch einer saß auch einfach nur dabei, sagte nichts und hörte nur zu.
Die Männer begrüßen sich freundschaftlich, fragen, wie es dem anderen so geht. Der Hund von Al bekommt Streicheleinheiten. Es wirkt fast wie ein Familientreffen. Die Männer, die sich hier unterhalten, sind aber nicht verwandt. Sie haben aber eine Gemeinsamkeit: Keiner von ihnen hat eine eigene Wohnung oder einen Arbeitsplatz. Sie sind obdachlos.
Gedämpftes Licht erhellt den Gemeinschaftsraum im Haus Benedikt. Die Einrichtung erinnert ein bisschen an ein Schullandheim und doch ist es nicht damit vergleichbar.
Das Haus im Waldshuter Ortsteil Schmitzingen bietet 20 Schlafplätze. Diese sind durchgängig belegt. Mit Menschen, die ansonsten kein Zuhause hätten. Sie sitzen zusammen. Nur einer liegt ein paar Meter weiter auf einem Klappbett. Es scheint, als ob er schläft, doch er hört zu. Und immer mal wieder sind ein paar Wortfetzen zu hören.

Einrichtungsleiter Sotiris-Aki Kiokpasoglou hat das Treffen ermöglicht. Die Männer erzählen von ihrem Leben auf der Straße, dem „richtigen“ Betteln, den Auswirkungen. Und ihren Zukunftsplänen, sofern sie überhaupt welche haben.
Über die Gründe von Obdachlosigkeit
Al wohnt in einem verwitterten kleinen Wohnwagen, abseits. Er blickt auf „seine Kumpels“ von der Straße und nennt seine Situation „Luxus“. Gönnte er sich im vergangenen Jahr doch sogar eine Gasheizung. Seine Zeit auf der Straße hat er hinter sich gelassen.
Doch wie kam er in diese Situation? Damals habe er sich von seiner Familie getrennt und habe dies psychisch nicht verarbeiten können, sagt Al. Für Hartz-4 habe er deshalb aus eigener Kraft die Formulare nicht ausfüllen können. Die Abwärtsspirale begann sich zu drehen: Er konnte die Miete nicht bezahlen. Verlor die Wohnung. Landete auf der Straße. „Erst als ich zur AGJ kam, lief es mit Hartz-4“, erzählt er. Denn dort habe ihm der Sozialarbeiter bei der Kommunikation mit den Ämtern geholfen.
Daniel ist im Vergleich zu den anderen noch jung. Bei ihm hätten Probleme in der Beziehung zum Auszug geführt. Zuerst zog er zu seiner Mutter. Doch dort sei es auf engem Raum „nicht gut gelaufen“. Er landete auf der Straße. Drei Monate lebte er unter freiem Himmel. Vor sechs Jahren zog er ins Haus Benedikt nach Schmitzingen. Auch Daniel hatte Probleme, Hartz-4 zu bekommen, bis ihm die Sozialarbeiter der AGJ halfen.
Und die Geschichte von Thomas Schell zeigt, dass auch Schicksalsschläge zu plötzlicher Obdachlosigkeit führen können. Er habe früher in Eggingen gewohnt. Nachdem seine Wohnung abgebrannt war, kam er hierher.
Die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt am Hochrhein treibt die Preise in die Höhe. Die Folgen bekam Hans zu spüren: „Wir kündigen Ihnen, denn wir renovieren die Wohnung und die höhere Miete können Sie nicht bezahlen“ – habe sein Vermieter zu ihm gesagt. Nun wohnt er im Haus Benedikt und ist dort ehrenamtlich als Reinigungskraft tätig.
„Es kann jeden treffen“, sind sich alle einig.
Über das Leben ohne Wohnung
Viele der Bewohner des Haus Benedikt kennen das Leben auf der Straße, haben es selbst hinter sich. Dieter Rattke ist besonders „gassen-erfahren“, wie er selbst sagt und lebt noch heute auf der Straße. „Tagsüber verteile ich Kaffee in der Wärmestube der AGJ und sonst mach‘ ich Platte“, beschreibt er sein Leben. Er ist ein Reisender und war früher alle paar Tage in einer anderen Stadt unterwegs.

Heute lebt er auf den Straßen von Waldshut-Tiengen. Dort schlägt er dann sein Lager auf, bestehend aus seinem Thermo-Schlafsack und einigen Kartons, die ihn auch an besonders kalten Tagen wärmen.
Der Mann aus dem Norden ist freundlich, trägt ein kariertes Hemd unter seinem Pullover und lächelt immerzu. Warum er nicht die Angebote der Wohnungslosenhilfe nutzt, wie etwa das Haus Benedikt? „Ich habe persönlich ein Problem, mit vielen Menschen aufeinander zu hocken, deswegen wohne ich in keiner Einrichtung.“
Über die Regeln auf der Straße
Wer denkt, dass auf der Straße keine Regeln gelten würden, hat weit gefehlt. Die Obdachlosen wissen, was sich gehört. Aggressives Betteln ist nicht ihr Stil: „Man sollte die Menschen nicht ansprechen oder bedrängen“, erzählen sie. „Einfach hinsetzen mit einem Becher“, lautet die Devise.
Und wie sollte man sich nun als Fußgänger verhalten, wenn man auf Obdachlose trifft? Hilft man ihnen, wenn man ihnen Geld gibt und sie sich davon Alkohol kaufen? Eine Gewissensfrage. „Man sollte den Betroffenen einfach fragen, wie man ihm helfen kann“, sagt Hans. Diese Antwort gefällt auch den anderen.
Und Al betont, dass man nicht alle „Straßenmenschen“ auf den Alkoholkonsum reduzieren sollte: „Viele trinken gar nichts. So wie ich.“
Über Resignation und soziale Isolation
Doch was macht das mit den Menschen, wenn sie auf der Straße leben? „Wir sind zur Chancenlosigkeit verdammt“, sagt Hans.

Anders sieht das Al: „Früher habe ich gedacht, die Bettler sollen doch arbeiten gehen.“ Doch heute, wo er selbst in dieser Situation ist, habe er gemerkt, dass auch seine Straßenmusik Arbeit ist. Eben nur anders. Er darf zu seinem Hartz-4 aber nur maximal 100 Euro dazu verdienen. Alles, was darüber liegt, werde abgezogen.
„Ja, die Menschenwürde bleibt auf der Strecke“, kommentiert dies Hans. Für ihn habe seine Situation auch schlimme Folgen im Sozialen: „Ich habe keinen Kontakt zu meiner Familie, weil sie Angst haben, ich würde ihnen auf der Tasche liegen.“
Über die Angebote für Wohnungslose
Die Wohnungslosenhilfe bietet neben dem Haus Benedikt auch eine Wärmestube in Waldshut an, sowie viele weitere Angebote. Al nutzt die Wärmestube täglich: „Es ist für mich eine Riesenfreude, täglich Mittagessen zu bekommen. Das ist so wichtig für mich geworden, vor allem das Familiäre.“
Rattke sagt: „Und wir können uns aufwärmen, gerade jetzt im kalten Winter.“ Al ergänzt: „Ja, und wir bekommen menschliche Wärme. Schließlich sind wir alle im gleichen Boot.“
Über die Zukunft
Viele wohnen schon lange hier. Manche sind wie Rudi erst vor Kurzem eingezogen und leben sich gerade ein. Während Hans von Chancenlosigkeit spricht, ist Al positiver gestimmt. Er ist Straßenmusiker in Bad Säckingen und Waldshut. Hier kennt ihn jeder. Musikmachen, das ist das, was er auch in Zukunft machen möchte. Er sieht es als seinen Beruf an. Doch hier bleiben möchte er nicht. Es sei Zeit für neue Orte.
Dieter Rattke will weiter auf der Straße leben. Mal hier. Mal dort. Aber er will auch mitreden, sich einbringen. Mit der AGJ demonstrieren die Betroffenen einmal im Monat bei der Landesarmutskonferenz in Stuttgart. Und Rattke ist immer dabei.
Hinter der Geschichte: So habe ich als Autorin die Männer im Gespräch erlebt
Ich wurde überaus freundlich im Haus Benedikt empfangen. Hier traf ich zunächst auf Al und sprach mit ihm über seinen Hund, seinen wichtigsten Begleiter. Und schon war das Eis gebrochen. Die Obdachlosen deckten selbst den Tisch, servierten Kaffee. Nach und nach kamen immer mehr dazu und ich war erstaunt, wie offen sie mit mir sprachen.
Natürlich gab es anfangs Berührungsängste, vielleicht auch Scham und Angst, die Anonymität zu verlieren. Aber die Männer erzählten mir von ihrem Leben. Sie erklärten, was sie bewegt, was sie fühlen. Einer der Sätze, die mich besonders berührt haben: „Wir sind zur Chancenlosigkeit verdammt.“
Es entwickelte sich rasch eine rege Diskussion und fast jeder brachte sich ein. Mit dem Wissen nichts sagen und seinen Namen nicht nennen zu müssen, stieg die Offenheit. Es war ein angenehmes Gespräch trotz der Themen, die den Männern zum Teil wirklich unangenehm waren.
Das Wichtigste: Ich hatte das Gefühl, dass es auch den Obdachlosen Freude bereitete, mit mir zu reden, dass es eine willkommene Abwechslung für sie war. Interesse zeigen, hinschauen und nicht wegsehen, das helfe bereits, sagen die Obdachlosen im Haus Benedikt. Und es stimmt: Diese Menschen brauchen sich jedenfalls nicht verstecken.