Im Garten steht ein Trampolin, vor der Tür parken die Kinderfahrräder, im Flur zieren Familienbilder und Handabdrücke in bunten Farben die Wände und im Wohnzimmer lädt ein großes Sofa mit vielen Kissen zum Kuscheln ein. „Mama, vergiss bitte nicht, dass wir nachher noch ins Schwimmbad gehen wollen“, ruft die sechsjährige Ida, ehe sie am großen Esstisch, dem Zentrum der offenen Küche Platz nimmt. Mutter Anna Kratzer nickt und reicht ihr eine Tasse warmen Kakao. Ida kommt dieses Jahr in die Schule. Mit ihrem Bruder Jannik – er wird bald 11 – übt sie schon fleißig und schafft es schon fast, bis 100 zu zählen. Eine Familienidylle.
Doch dass Ida und Jannik, die gar keine „echten“ Geschwister sind, so glücklich aufwachsen dürfen, war in ihren ersten Lebensmonaten nicht absehbar. Bei ihren jeweils leiblichen Eltern konnten Jannik und Ida nicht bleiben. Die Situation dort gefährdete das Kindeswohl und das Jugendamt musste sie anderweitig unterbringen. Anna Kratzer (33) und ihr Mann Timo (42) sind die Pflegeeltern der beiden.
„Die beiden sind unsere Kinder. Für uns gibt es keinen Unterschied.“Anna Kratzer
Anna Kratzer streicht Jannik über das Haar. Im Alter von einem Jahr und neun Monaten kam Jannik zu seinen Pflegeeltern, ein paar Jahre später die damals fast einjährige Ida.

Die beiden sind zwei von aktuell 129 Pflegekindern im Landkreis Waldshut. Denn es gibt familiäre Situationen, in denen Eltern Hilfe und Unterstützung bei der Erziehung ihrer Kinder benötigen. Dann ist das Jugendamt gefragt. Reicht die Unterstützung der Ursprungsfamilie nicht aus, ist manchmal auch die Trennung eines Kindes von seiner Herkunftsfamilie nötig. Wie in den Fällen von Jannik und Ida.
„Das ist aber wirklich der allerletzte Schritt“, betont Claudia Stahl, Abteilungsleiterin Spezialsozialdienst im Jugendamt Waldshut. Doch manchmal ist er nötig: Die Gründe reichen von Vernachlässigung über psychische Erkrankungen oder Suchterkrankungen bis hin zu körperlicher Gewalt oder gar sexuellem Missbrauch. Auch in unserer Region.
„Die Trennung von der Familie ist für die Kinder immer ein sehr harter Einschnitt. Für sie gerät die Welt aus den Fugen.“Claudia Stahl
In solchen traumatisierenden Situationen benötigen sie verlässliche und einfühlsame Bezugspersonen, bei denen sie Zuwendung, Stabilität und Förderung erfahren, um sich positiv entwickeln zu können. Eine Pflegefamilie soll ihnen diese Möglichkeit bieten.
Anna Kratzer und ihr Mann Timo sind Vollzeitpflegeeltern. Das heißt, dass die Kinder, die bei ihnen leben, kaum eine Chance auf Rückkehr zu ihren leiblichen Eltern haben, die Konstellation als Familie also langfristig angelegt ist. „Anders könnte ich persönlich das nicht“, sagt Anna Kratzer mit Blick auf ihre beiden Kinder. Sie selbst war 24, als ihr Mann und sie sich dazu entschieden, Pflegeeltern zu werden. Warum?
„Wir wollten Kindern, die bei ihren leiblichen Eltern nicht gut aufgehoben sind, die Chance geben, in einer richtigen Familie aufzuwachsen.“Anna Kratzer
Neben den Kindern in Vollzeitpflege gibt es aktuell sieben Kinder im Kreis Waldshut, die in auf wenige Monate ausgelegter Bereitschaftspflege untergebracht sind. Familienleben auf Zeit, das zur Zeit 12 Pflegefamilien ermöglichen. 108 Pflegefamilien geben Kindern in der Vollzeitpflege ein dauerhaftes Zuhause.
„Corona hat die Situation in den Familien verschärft“, hebt Claudia Stahl hervor. So viele Kinder wie während der Pandemie seien es noch nie gewesen, die vom Jugendamt aus ihren Familien genommen werden mussten. „In diesem Jahr hatten wir bereits Anfragen für acht Kinder für Vollzeitpflegestellen“, erklärt die Mitarbeiterin des Jugendamts. Hinzu kommen Anfragen von Jugendämtern anderer Landkreise, die Pflegeplätze für Kinder suchen – praktisch wöchentlich, so Stahl.
Pflegekinder kommen aus schwierigen Familienverhältnissen. Familien, in denen eine Sucht den Alltag bestimmt, Mütter, die während der Schwangerschaft und danach Drogen konsumierten. Claudia Stahl beschreibt, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass sogar ganz kleine Babys nicht mehr schreien, wenn sie ein Bedürfnis haben.
„Sie haben bereits mit wenigen Monaten gelernt, dass es sinnlos ist, durch Schreien auf sich aufmerksam zu machen, weil eh niemand kommt.“Claudia Stahl
Der Verlust des grundlegendsten Vertrauens eines Menschenkinds – eine bedrückende Vorstellung. Diese Kinder können Spuren der Erlebnisse oder sogar Schäden davontragen.
Macht das Pflegeeltern keine Angst? „Nein“, sagt Anna Kratzer. „Wir haben uns ja ganz bewusst dafür entschieden und wussten von Anfang an, dass unsere Kinder besondere Bedürfnisse haben könnten und vielleicht auch spezielle Therapien oder Förderungen brauchen würden.“

Unterstützung bekommen die Pflegefamilien dabei vom Jugendamt. „Wir stehen in regelmäßigem Austausch, werden beraten und unterstützt“, beschreibt die Pflegemutter. Auch Kontakt zu anderen Pflegefamilien gibt es und die Kinder lernen sich untereinander kennen. Das Aufwachsen bei „anderen“ Eltern ist ein verbindendes Element. Und im Alltag doch so unwichtig. „Wir sind eine ganz normale Familie“, beschreibt Anna Kratzer.
„Wir lieben uns, aber wir streiten auch mal, wir genießen unsere Familienzeit, aber es gibt auch klare Regeln.“Anna Kratzer
Sie und ihr Mann Timo sind die Eltern von Ida und Jannik, daran besteht kein Zweifel. Dennoch: „Beide Kinder wissen ganz genau, dass wir nicht ihre leiblichen Eltern sind. Es ist uns sehr wichtig, dass wir absolut ehrlich zu ihnen sind. Sie müssen ihre Wurzeln kennen und wir beantworten ihre Fragen“, sagt die Pflegemutter.
Je nach Alter und Situation der Kinder wird entschieden, ob eine Pflegefamilie das Richtige, oder die Betreuung in einer Jugendhilfeeinrichtung die bessere Wahl ist. „Generell lässt sich sagen, dass Jugendliche meist besser in betreuten Wohngruppen aufgehoben sind, jüngere Kinder bei Pflegeeltern, aber man muss jeden Fall ganz individuell betrachten“, so Stahl. Entscheidend ist es, dass Pflegekind und Pflegeeltern zusammenpassen und sich sympathisch sind.
„Gerade bei Vollzeitpflegestellen wird viel Wert auf das Kennenlernen gelegt. Es muss von Anfang an für beide Seiten passen.“Claudia Stahl
Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Pflegeeltern sind nicht verpflichtet, ein Kind aufzunehmen, können jederzeit ablehnen, auch wenn aktuelle Umstände hinderlich werden. Ob und inwieweit Kontakt zu den leiblichen Eltern besteht, ist ganz unterschiedlich. Während Ida ihre leibliche Mutter regelmäßig sieht, hat Jannik derzeit keinen regelmäßigen Kontakt zu seinen leiblichen Eltern.
Ist die Entscheidung dann gefallen, bleiben Vollzeitpflegekinder in der Regel dauerhaft in ihrer Pflegefamilie. So wie Jannik und Ida bei Familie Kratzer. Hier hatte von Anfang an alles gestimmt, wie Anna Kratzer beschreibt: „Sobald ich die Kinder im Arm hatte, hatte ich sie im Herzen.“