Es ist noch mitten in der Nacht, kurz vor 5 Uhr morgens, als das Telefon der gebürtigen Ukrainerin Nataiya Posokhova am 24. Februar plötzlich fast dauerhaft vibriert. „Es gingen etlichen Nachrichten bei mir ein, bis ich dann wach geworden bin und auf mein Handy geschaut habe.“ Und was die 45-jährige Waldshuterin dort von ihrer Familie und Freunden las, machte sie fassungslos: „Es geht los“, „Russland hat die Ukraine angegriffen“, „Der Krieg hat begonnen“, musste sie lesen.

„Wir haben bis zuletzt nicht geglaubt, dass Putin wirklich einen Krieg beginnt, doch wir haben uns geirrt“, sagt Posokhova traurig.

Ein Blick in die Geburtsstation eines Krankenhauses in Kiew: Notdürftig wurden die Frauen in den Keller des Gebäudes verlegt.
Ein Blick in die Geburtsstation eines Krankenhauses in Kiew: Notdürftig wurden die Frauen in den Keller des Gebäudes verlegt. | Bild: privat
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Die ersten fünf Nächte konnte Nataiya Posokhova, die in Kiew aufgewachsen ist, nicht schlafen, wie sie erzählt. Dann hatte sie Erschöpfung eingeholt.

„Meine Mutter und Schwiegereltern, Cousinen und Freunde leben alle noch in Kiew. Wir machen uns solche Sorgen, haben unbeschreibliche Angst, stehen im ständigen Kontakt über Nachrichten und Videoanrufe, verfolgen die Nachrichten rund um die Uhr. Nach jedem Angriff schreibe ich meiner Mutter: ‚Mama, wo bist Du?‘“

Schlafplätze in einem Keller einer Kita in Kiew: Auch hier versuchen Menschen Schutz vor den Angriffen zu suchen.
Schlafplätze in einem Keller einer Kita in Kiew: Auch hier versuchen Menschen Schutz vor den Angriffen zu suchen. | Bild: privat

Weil Posokhovas Schwiegermutter krank ist und unter Multiple Sklerose leidet, können sie und ihr Mann nicht die Wohnung verlassen, um Schutz in einem U-Bahnhof, Tiefgarage, Keller oder einem Bunker zu suchen.

Menschen suchen Schutz in Badewannen

„Auch meine Mutter verlässt ihre Wohnung nicht. Viele verschanzen sich im Badezimmer, suchen Schutz in der Badewanne, wenn die Sirenen losgehen, genug Platz gibt es auch nicht für die ganzen Menschen in den Schutzeinrichtungen, denn Kiew ist groß, eine Millionenstadt, mit vielen Hochhäusern und nur wenige haben einen Keller“, schildert Nataiya Posokhova die Lage in ihrer Heimat, in der sie zuletzt im Sommer 2021 zu Besuch war.

In Kiew suchen auf Rat der Regierung Menschen Schutz in der Badewanne. Dieses Bild erreichte Nataliya Posokhova aus ihrer Heimat.
In Kiew suchen auf Rat der Regierung Menschen Schutz in der Badewanne. Dieses Bild erreichte Nataliya Posokhova aus ihrer Heimat. | Bild: privat

Lebensmittel werden knapp

„Mittlerweile hat sich der erste Schock gelegt, dass es überhaupt zu einem Krieg gekommen ist“, sagt Posokhova , die mit ihrem Mann 1999 nach Deutschland gekommen ist, damit er hier im Bereich Physik promovieren kann. „Jetzt beginnt die zweite Phase, denn es gibt bald nicht mehr genügend Lebensmittel, Medikamente, Hygieneartikel – die Regale sind jetzt schon zum großen Teil leer und es bilden sich lange Schlangen vor den Geschäften.“

In vielen Geschäften sind die Regale in der Ukraine mittlerweile fast leer. Auch in den Apotheken gebe es kaum noch Medikamente.
In vielen Geschäften sind die Regale in der Ukraine mittlerweile fast leer. Auch in den Apotheken gebe es kaum noch Medikamente. | Bild: privat

Viele Ukrainer hätten Angst, dass Land zu verlassen. „Der Weg von Kiew zu polnischen Grenze ist weit – hunderte Kilometer – es gibt keinen Luftverkehr mehr, sondern nur noch Züge, die aus dem Land führen. Und die Fahrt nach Polen dauert sehr lange, viele Stunden, weshalb die Leute auch Angst haben, dass ihnen etwas auf der Fahrt passiert. So geht es auch meiner Mutter. Sie war gerade im Dezember zu Besuch in Waldshut und jetzt muss sie in ihrer Heimat um ihr Leben bangen“, erzählt Nataiya Posokhova traurig und wütend.

„Aber sie will ihre Heimat noch nicht verlassen.“ Hinzu käme, dass die Männer im Krieg kämpfen und nicht viele Frauen einen Führerschein hätten oder sich zu trauen, allein die Flucht zu wagen. Auch die Nachricht von ersten Toten im Bekanntenkreis habe Posokova bereits erhalten, erzählt sie mit Tränen in den Augen.

Auch Krankenhaus wurde getroffen

NataiyaPosokhovas Freundin Elena Korocencev aus Dogern, die als Ukrainerin am 2. März bei der Friedenskundgebung in Waldshut eine Rede gehalten hat, steht im Austausch mit Freunden in der Ukraine. „Ich selbst habe keine Verwandtschaft mehr dort, aber einige Freunde und Bekannte. Ich habe erst jüngst mit meiner ehemaligen Lehrerin gesprochen, die mir aus dem Keller berichtet, wie es in meiner Heimatstadt, die etwa 130 Kilometer westlich von Kiew liegt, steht.“ Mittlerweile sei sogar ein Krankenhaus zerstört worden. „Der Angriff war wohl auf eine benachbarte Polizeistation geplant, aber da sieht man eben, dass die Waffen nicht genau treffen können“, sagt die Betriebswirtin, die mit ihrem Mann aus beruflichen Grünen 1995 nach Deutschland gekommen ist.

In einer Turnhalle in Kiew knüpfen Zivilisten zum Schutz vor den russischen Angriffen Tarnnetze. Auch dieses Bild erreichte Nataliya ...
In einer Turnhalle in Kiew knüpfen Zivilisten zum Schutz vor den russischen Angriffen Tarnnetze. Auch dieses Bild erreichte Nataliya Posokhova vor wenigen Tagen. | Bild: privat

Die beiden Freundinnen berichten, dass jetzt vor Ort vor allem die humanitäre Hilfe immer wichtiger wird. 'Sobald die Lebensmittel noch knapper werden, die Strom- und Wasserversorgung vielleicht nicht mehr gewährleistet werden kann, sind die Menschen vor Ort auf Hilfsgüter, vor allem Medikamente, Brennmaterial und haltbare Lebensmittel angewiesen. Wir sind froh, dass sich auch die Bevölkerung hier vor Ort so stark engagiert, das gibt den Menschen in der Ukraine Hoffnung und das Gefühl, nicht allein zu sein', sagt die Pharmazeutin. „Die Ukrainer werden ihr Land nicht aufgeben, es kommen auch viele Ukrainer aus anderen Ländern zurück, um zu kämpfen und ihren Familien beizustehen. Die Ukrainer sind wütend und werden alles verteidigen.“

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