Die Straße führt steil hinauf ins Quartier Kirchäcker in der Gemeinde Dettighofen. Eine richtige Idylle am Waldrand. Irgendwie versteckt. Hier lebt es sich gut. Hans-Ulrich Keller hat sich hier ein ansehnliches Altersdomizil geschaffen. Er ist Schweizer Staatsbürger, wie seine Kumpel, die oben am Tisch gut gelaunt schon warten. Bruno Auf der Maur aus Jestetten und Josef Eisenlohr aus Lottstetten, der Senior in der Runde, sind seine Landsleute. Die drei Vorstände erzählen vom Schweizer-Verein Helvetia Jestetten und Umgebung, von einer spannenden Geschichte und von dem, was der Verein heute tut.

Auf dem großen, rechteckigen Tisch haben sie einige Dokumente liegen. Eisenlohr öffnet sein Notebook und öffnet die Homepage des Vereins. Ein schönes Bild vom Rheinfall ziert die Startseite. Er ist stolz auf sein Werk und legt gleich los: „Sie haben mich eingeladen, weil ich der Älteste bin“, scherzt der 91-Jährige. Er erlebte die Kriegs- und Nachkriegszeiten hautnah, als damals junger Bursche.
Fast 2000 Schweizer im Landkreis gemeldet
Laut Auskunft des Landratsamts sind, Stand 31. Mai, 1996 Schweizer Staatsbürger im Landkreis Waldshut gemeldet, das Schweizer Bundesamt für Statistik spricht von über 90.000 Auslandsschweizern in Deutschland. „Das ist über 1 Prozent der deutschen Bevölkerung“, stellt Eisenlohr fest und lacht. Rund 400 Schweizer leben laut Bürgermeisterin Ira Sattler in Jestetten.
Dass einige hier lebende Schweizer in einem Verein organisiert sind, dass es in Jestetten einen Schweizer-Verein Helvetia gibt, dürfte wohl wenigen bekannt sein. Dabei hat der Verein eine spannende Geschichte, die in der Nachkriegszeit, während der französischen Besatzung begann.
Der Schweizer-Verein Helvetia
Das Kriegsende verändert die Situation
Seit jeher lebten Schweizer Staatsbürger im Grenzgebiet in Deutschland – Seite an Seite mit den Einheimischen. In der Chronik des Vereins steht einleitend: „Vor den Kriegs- und Nachkriegsjahren war durch den Zollausschluss des Jestetter Zipfels bis 1935 die wirtschaftliche Verbundenheit mit dem Heimatland sowieso gegeben. Bis zum Beginn des Kriegs konnte man sich mit der NS-Regierung noch arrangieren.“
Nach dem Ende des Kriegs änderte sich alles. Die französische Besatzungsmacht hatte in Jestetten das Sagen. Am 14. Mai wurden – mit wenigen Ausnahmen – alle Einwohner der Grenzdörfer Jestetten, Lottstetten, Altenburg und Baltersweil evakuiert und auf Dörfer weiter im Landesinneren verteilt. Es sollte die Grenzsicherung vereinfachen.
Mitglieder helfen ihren Landsleuten in der Not
Die Schweizer durften bleiben. Aber sie mussten sich denselben Ausgangsbeschränkungen und derselben Lebensmittelrationierung und denselben Bestimmungen über Abgaben unterordnen. In der Chronik heißt es: „Keine sonderliche Hilfe erfuhren sie, wie es schien, von den offiziellen schweizerischen Stellen in Bern.“ Auch vom Zollpersonal hüben wie drüben sei nichts zu erwarten gewesen. Der Lohn aus der Arbeit in der Schweiz sei nur zu 25 Prozent in Schweizer Franken, der Rest in der nahezu wertlosen deutschen Währung ausbezahlt worden. Sie hätten zunächst keine Waren mitnehmen dürfen. Wenn, dann nur mit einer Ausfuhrgenehmigung. Die zu bekommen, sei umständlich gewesen.
Um all‘ diese Probleme zu lösen und vor den Franzosen mit einer Stimme zu sprechen, ist die Idee des Schweizer Vereins geboren worden. Im Herbst 1946 war es so weit. Natürlich mit Einverständnis der örtlichen französischen Kommandantur. Die Mitglieder wurden gleich aktiv. Sie verteilten Spenden für Landsleute, die in Not geraten waren. Sie mussten Lebensmittel- und sonstige Warenpakete an der Grenze abholen. „Sie wollten es nicht den Franzosen bringen, sonst wären sie weg gewesen“, erklärt Auf der Maur.
Französisches Militär stürmt 1. August-Feier
Der Verein musste jede Versammlung bei den Franzosen anmelden, eine Verlängerung der Ausgehzeit beantragen. Bei Theaterführungen musste vorher das Textbuch eingereicht werden. Und für die 1. August-Feier 1947 brauchte es eine Sonderbewilligung. Die Anekdote erzählt: Die Feier sei vom französischen Militär gestürmt worden. Es kontrollierte alle Ausweise. Der Grund war einfach: Die Vereinsführung habe vergessen, den Kommandanten einzuladen. „Er wollte nur beim Essen dabei sein, um das ging‘s“, sagt Auf der Maur mit einem Augenzwinkern.
Schweizer setzen sich für Heimkehr ein
Unabhängig vom Verein sei es laut einem Bericht des Tagesanzeigers vom 9. Januar 2015 den Schweizer Nachbarn zu verdanken, dass die evakuierten Bewohner wieder heimkehren durften. Die Schweizer hätten sich Sorgen um die Zukunft des Jestetter Zipfels gemacht, mit dem enge wirtschaftliche Verflechtungen bestanden hätten. Politiker aus Schaffhausen und Zürich hätten auf Gespräche mit den Besatzern gedrängt, und sie boten laut Schilderung Unterstützung bei der Bestellung der Felder und Pflege der Kulturen an.
Mit Erlaubnis der Franzosen organisierten die Schweizer die Hilfsaktion „Heuernte“. Aber es habe nicht genug helfende Hände für die Ernte und das Einbringen des Heus gegeben. So durften die Ersten bald wieder zurückkehren.
Leider gebe es laut Eisenlohr keine Fotos aus der Gründerzeit des Vereins. „Die Franzosen haben damals alle Fotoapparate beschlagnahmt.“ Zumindest existiert noch ein Dokument des damaligen Jestetter Bürgermeisters (Name unbekannt) an den Verein zu dessen Gründung.

Verein berät bei Behördenangelegenheiten
Auch heute kämpft der Verein bei aktuellen Themen wie AHV, Pensionskassen, Versicherungen, Führerausweise und Aufenthaltsbewilligungen. Und hilft bei Behördenangelegenheiten. „Die Administration hier ist mühsam, so viel Papier habe ich noch nie gesehen“, sagt Keller.
Die Steuer etwa bezeichnet er als „Rosinenpickerei“. Der Verein pflege einen guten Kontakt zum Schweizer Konsul in Stuttgart. Bei all‘ diesen formellen Angelegenheiten legt der Verein viel wert auf das Gesellige. Er unternimmt Ausflüge und organisiert Feiern.
Drei Vorstandsmitglieder des Schweizer-Vereins Helvetia
Sie leben glücklich in Deutschland
Nach dem Leben in Deutschland gefragt, antworten die Drei aus einem Mund: „Wir sind glücklich hier.“ Keller komme mit den Menschen hier gut aus. Die Leute in Grenznähe ticken schließlich wie wir. Eisenlohr: „Dem stimme ich absolut zu.“ Keller sei gut aufgenommen worden. „Wir gehen aber auch auf die Menschen zu“, ergänzt er. Und Auf der Maur setzt noch einen drauf: „Wir sind alle Alemannen, bis in die Berge.“ Keller ist sogar ehrenamtlich engagiert.
Bürgermeisterin pflegt viele Kontakte in die Schweiz
Deutsche und Schweizer sind eng verbunden. „Ich bin ein Kind der Grenze, ich habe viele Freunde und Bekannte in der Schweiz, ich gehe drüben ins Theater, zu Konzerten und Sportveranstaltungen. Da ergeben sich Beziehungen“, schildert Jestettens Bürgermeisterin Ira Sattler das Zusammenleben aus ihrer Sicht, „als gäbe es die Grenze nicht.“ Sie spricht von einem gemeinsamen Lebensraum. Und sie scherzt: „Über Grenzen hinweg wird auch geheiratet.“
Sie kennt den Verein Helvetia und dessen Präsidenten Auf der Maur und lobt die Aktivitäten: „Sie bringen sich ein und teilen uns alle Termine mit.“

Der Verein wünscht sich indes, dass sich mehr Mitglieder anmelden. Eisenlohr: „Es gibt so viele Schweizer, die hier bauen, junge Familien, die wollen wir ein bisschen mobilisieren. Mit ihnen soll die Geschichte des Vereins und der Region weiterleben.