„Meine Geschichte mit der Reichsbahn beginnt an dem Tag, als wir kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in ein kleines Schweizerdorf unmittelbar an der deutschen Grenze zogen“, schreibt eine Schweizerin in ihren Erinnerungen, die der Alb-Bote im Sommer 1963 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Bahnlinie Waldshut-Konstanz veröffentlichte. Die amüsant geschriebenen „Jugenderinnerungen an die RB“ sind eine Liebeserklärung an ein Verkehrsmittel, das, wie sich die Klettgauerin ausdrückt, ihr ein Stück Heimat wurde. Auch während des Zweiten Weltkriegs verkehrte die Reichsbahn regelmäßig auf der etwa 30 Kilometer langen Strecke durch die Schweiz zwischen Erzingen und Thayngen. In Erzingen gab es einen eigenen Zugang für Schweizer Passagiere. Eine Durchreise durch den Kanton Schaffhausen war für Deutsche nur mit Visum gestattet. 1963, als die Schweizerin ihre Erinnerungen niederschrieb, fuhren noch Dampfloks, die ab 1964 durch Dieselloks ersetzt wurden.

Das könnte Sie auch interessieren

Die von 1939 bis 1949 spielende Geschichte (hier gekürzt wiedergegeben) der Schweizerin beginnt mit dem Umzug in ein Dorf direkt an der Bahnlinie: „Das Entzücken von uns Kindern sowie das Entsetzen unserer Mutter lässt sich kaum vorstellen, als das rußige Biest zum ersten Mal fauchend, dampfend, schnaubend und pustend vor unseren Augen auftauchte und gerade unsrem Haus gegenüber das Tal hinaufzog, Während des Krieges sollte sie bald zu einem der wichtigsten Faktoren unseres Lebens werden. Unser Auto wurde gesperrt, und so spielte sich alles über die Bahn ab: Schule, Einkäufe, Tierarzt, Zahnarzt, Besuche – alles.

Das könnte Sie auch interessieren

Doch am schönsten war es an Sonntagen, denn da fanden sich oftmals sämtliche Bauernkinder des Dorfes in unserem Garten ein. Mein Vater zog dann mit uns Richtung Reichsbahn. Zwanzig frischgewaschene Kinder in gebügelten Kleidchen mit weißen Krägelchen stiegen ein, zwanzig freudestrahlende Kaminfeger stiegen am Abend wieder aus. Es waren aufregende Fahrten. Wir purzelten über die Bänke, zogen verbotenerweise am Lederriemen, mit dessen Hilfe das Fenster auf zu gemacht wurde. Der Wind zerzauste die Haare und blies uns den Kohlenstaub ins Gesicht, bis wir mit tränenden Augen zu Papa schlichen, der uns mit einer Taschentuchecke zu Hilfe kam. Nachher saßen wir brav auf unseren Plätzen und entzifferten dank der ersten Abc-Kenntnisse die Plakatsprüche: ,Rräder rrollen durrchs Rreich.

Das könnte Sie auch interessieren

Während des ganzen Krieges hat uns die Bahn treu gedient. Sie kam manchmal zu spät, aber sie kam. Als deutsches Gut wurde sie hin und wieder selbst auf Schweizerboden beschossen. Es wurde angehalten, die Passagiere mussten sich – möglichst im Wald – verstecken. Nach überstandenem Schreck forderte ein Pfiff auf, wieder einzusteigen. Am dankbarsten denke ich an meine Schulfahrten zurück. Wenn der erste Zug vorbeifuhr, wachte ich auf, kam der zweite, musste ich aufstehen, und tauchte der dritte an der Ecke auf, hieß es rennen. Sobald der Schaffner mich sah, winkte er und rief: ,Hopp, hopp, hopp! und der Zug und ich rasten um die Wette dem Bahnhof zu. Es hat immer geklappt, stets hat die Reichsbahn treu gewartet, bis ich wenigstens mit einem Bein auf dem ersten Trittbrett stand – und schon pufften wir Schaffhausen zu. Auf der Bahn habe ich mein Herz zum ersten Mal verloren. Mein Verehrer war groß, mit blonden Locken. Mit der Bahn fuhr ich zu meinem ersten Ball, mit ihr jeweils auch das erste Stück meiner vielen Reisen ins Ausland. So sind es tausend kleine Erinnerungen, die mich mit der Bahn verknüpfen, und ich hoffe, dass sie noch lange durch unser Tal pusten wird. Für uns ist sie ein Stückchen Heimat.“