Es ist Mucksmäuschen still. Auf einem Bildschirm im Gerichtssaal des Landgerichts Konstanz erscheinen Fotos. Bilder eines unglaublich tragischen Unfalls. Zu sehen ist ein Trümmerfeld. Ein Auto liegt auf dem Dach.

Die Front des zweiten Autos ist eingedrückt. Dutzende Rettungskräfte sind im Einsatz. Es ist der 9. Dezember 2018. Der Tag, an dem Christoph B. viel zu schnell unterwegs war. Er glaubt, fliehen zu müssen. Vor dem Spezialeinsatzkommando, kurz SEK. Ein Irrglaube.

(Archivbild) Auch das Auto des Unfallverursachers Christoph B. ist schwer demoliert.
(Archivbild) Auch das Auto des Unfallverursachers Christoph B. ist schwer demoliert. | Bild: Nikolaj Schutzbach | SK-Archiv

Mit mindestens 105 Stundenkilometern rast er auf den Ortseingang Langenrain zu. Erlaubt sind 50. Er kommt auf die Gegenfahrbahn. An diesem Tag ist auch Timo S. in seinem Auto unterwegs. Der damals 29-Jährige bremst. Sein Auto kommt zum Stehen. Es reicht nicht. Der Wagen von B. knallt frontal in den von S.

Seit diesem Tag ist das Leben sehr vieler Menschen nicht mehr dasselbe. Vor allem nicht das von S., seiner Familie und Freunde. S. liegt seither im Wachkoma. Wird er je wieder aufwachen? Keiner weiß es.

Eineinhalb Jahre Haft – so lautete das erste Urteil

Obwohl dieses Unglück schon vier Jahre zurückliegt und es bereits ein Urteil gibt, wird der Fall erneut vor Gericht verhandelt. Diesmal nicht am Amtsgericht Konstanz, sondern in der nächst höheren Instanz, dem Landgericht Konstanz. Es ist ein Berufungsverfahren, welches der Angeklagte angestrebt hat.

Daher treffen Ende Oktober wieder alle Beteiligten zusammen. B. sitzt auf der Anklagebank zwischen seinen zwei Verteidigern. Gegenüber sitzt der Staatsanwalt. Als Nebenklägerin ist die Mutter des Opfers anwesend – daneben ihr Sohn.

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Der junge Mann sitzt im Rollstuhl. Die meiste Zeit sind seine Augen geschlossen. Er schläft. Eine rot-weiße Decke ist über ihn ausgebreitet. Sein Kopf fällt immer wieder während des Prozesses vor. Eine Pflegerin steht daher öfter auf und nimmt sanft seinen Kopf zurück. „Wie es Herrn S. geht, können wir alle hier sehen“, sagt Richter Tasso Bonath, der am Ende des Prozesstages eine schwierige Entscheidung fällen muss.

Auch B. sieht das Opfer. Doch er vermeidet es, hinzuschauen. Die ganze Zeit während des Prozesses sitzt er mit gefalteten Händen auf der Anklagebank. Er starrt an die Wand. Sagen wird er zum Unfallgeschehen nichts. „Ich kann mich an den Unfall nicht erinnern“, sagt der Beklagte. Das ist an diesem Verhandlungstag auch nicht wichtig. Was passiert ist, ist nicht Gegenstand der Verhandlung. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem psychischen Zustand, in dem sich B. zum Tatzeitpunkt befunden haben soll.

Angeklagter erklärt, dass er Stimmen gehört habe

Um das zu verstehen, ist ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie als Sachverständiger vor Gericht. Er hat ein 40-seitiges Gutachten erstellt. Darin erläutert der Psychiater haarklein, wie B. innerhalb weniger Wochen psychotische Symptome entwickelt hat. Ausgelöst werden die Symptome, die in Warnstimmungen, Existenzangst, Halluzinationen und Verfolgungswahn enden, durch beruflichen Stress.

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Der Angeklagte sei ab August bis Dezember 2018 immer mehr davon überzeugt, dass er aus seiner Firma hinausgeworfen werden soll. Er sieht immer mehr Anzeichen für ein Komplott gegen ihn. Zu dieser wahnhaften Überzeugung kommt noch die Angst, sich mit einem Immobilienkauf am Bodensee, immerhin ein Haus im Wert von 1,5 Millionen Euro, übernommen zu haben.

Irgendwann habe der Angeklagte körperlose Stimmen gehört, führt der Psychiater aus. „Die männliche Stimme sagte: Pass auf! Bring dich in Sicherheit“, erzählt der Arzt und ergänzt: „Er hatte das Gefühl der Bedrohung und Spionage“.

Arzt ist überzeugt: „Der Wahn war vorhanden“

Immer mehr habe sich B. in einem Zustand der Angst befunden, dass er aufgrund von rechtlichen Fehlern in seinem Betrieb festgenommen werden würde. Davon sei B. auch am Tag des Unfalls überzeugt gewesen. Er sei daraufhin in sein Auto gestiegen, um vor dem vermeintlichen SEK-Einsatz zu fliehen. Was dann geschah, wissen alle im Saal.

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Nicht jeder im Raum ist sich aber sicher, ob B. dem Arzt nicht nur Geschichten erzählt. Um jedes Bedenken aus der Welt zu schaffen, will der Rechtsanwalt der Nebenklage wissen, ob B. diese Ängste auch nur erfinden könnte. „Ich habe keinerlei Zweifel, dass es für den Angeklagten ein sensitiv-authentische Erlebnis war“, sagt der Arzt.

Der Angeklagte habe eine schizophrene Episode entwickelt – so der Fachbegriff. Typisch hierfür seien Wahnideen, Stimmen hören und das Gefühl, beobachtet oder beeinflusst zu werden. „Der Wahn war vorhanden“, sagt der Arzt. Aufgrund dieser Diagnose kommt der Psychiater zu dem Schluss: der Angeklagte ist nicht schuldfähig.

Ein Freispruch, mit dem jeder gerechnet hat

B. nimmt diese Schlussfolgerung wortlos hin. Überhaupt ist er den ganzen Prozess über stumm. Doch als der Richter ihn fragt, ob er seine letzten Worte nutzen möchte, zögert er nicht. Er nickt. Dann setzt er an: „Ja, ich versuch es.“ Er räuspert sich, richtet seinen Blick zum ersten Mal an diesem Tag zur Familie des Opfers.

Aber nur kurz. Dann sagt er: „Es tut mir unglaublich leid, was hier geschehen ist. Ich hadere sehr damit. Ich wünsche mir einfach, dass Herr S. wieder gesund wird. Ich habe ja gesehen, in welchem bemitleidenswerten Zustand er sich befindet. Es ist einfach nur schrecklich.“ Er verstummt.

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Kurz darauf verkündigt der Richter Bonath das Urteil. Ein Freispruch. B. reagiert kaum. Die Familie von S. zeigt auch keine Regung. Niemand im Gerichtssaal scheint überrascht zu sein. Einige Besucher schütteln den Kopf, andere schnauben, wieder andere wirken erleichtert.

Die Mutter von S. sagt nach der Urteilsverkündigung: „Dass es einen Freispruch geben wird, mit dieser Ahnung bin ich heute Morgen schon zu Gericht gekommen.“ Ob sie nun plant, in Revision zu gehen? „Wir überlegen es uns. Wir haben eine Woche Zeit“, sagt sie. Jetzt wolle sie aber erst mal nicht darüber nachdenken. Nächste Woche hat ihr Sohn Geburtstag. Er wird 33 Jahre alt. Und das wird mit Familie und Freunden gefeiert – auch wenn das Geburtstagskind im Wachkoma liegt.