Herr Jetter, was fasziniert Sie an der Orgelmusik?
Für mich ist Orgelmusik eine Art Urkraft, vergleichbar etwa mit den vier Elementen. Vielleicht ist es ja das fünfte Element? (schmunzelt) Die Orgel wird ja nicht umsonst als Königin der Instrumente bezeichnet. Sie ist mit das größte Instrument, das von einem einzelnen Menschen gespielt werden kann. Stellen Sie sich vor, bereits eine mittelgroße Orgel, wie die Radolfzeller Münsterorgel zum Beispiel, besitzt locker 3000 Pfeifen. Das hat schon eine gewaltige Kraft. Aber auch Vielfalt: man kann donnern, aber auch sehr differenziert und subtil spielen.
Dann stehen die Orgeln meist in großen, akustisch komplexen, oftmals auch historisch interessanten und bedeutenden Kirchenräumen. Es ist immer auch ein besonderes Erlebnis, diese Räume mit Musik füllen zu können. Keine einfache Aufgabe, aber welches Instrument wäre dafür geeigneter, als die Orgel mit all ihrer Macht und Klangfülle?
Für wie populär halten Sie die Kirchenmusik?
Keine einfache Frage. Kirche ohne Musik ist wahrscheinlich undenkbar. Zumindest gab es das nie. Da käme dann die Frage: Wie populär ist Kirche, oder: wie populär ist Kirche heute noch? Ich bin zum Beispiel überzeugt, dass noch in der Generation meiner Eltern hierzulande eigentlich niemand wirklich an Kirchenmusik vorbeikam, ganz egal ob in der Stadt oder auf dem Dorf, sie war immer ein Teil unserer Tradition. Aber unsere Gesellschaft hat sich in jüngster Zeit verändert, wahrscheinlich sogar wie niemals zuvor.
Bis vor Kurzem konnte ich mir auch zumindest in Europa noch keinen Menschen vorstellen, der es in seinem Leben geschafft hätte, niemals von Johann Sebastian Bach, einem der größten Vertreter der Kirchenmusik überhaupt, gehört zu haben. Mittlerweile bin ich mir da jedoch nicht mehr so sicher. Fakt ist jedoch, dass seine und viele andere Werke der Musik zeitlos bestehen werden und niemals an Aktualität verlieren, auch, wenn selbst klassische Musik in unserer heutigen Zeit ein Nischensektor ist, da mache ich mir gar nichts vor.
Sie waren Münsterorganist und -kantor. Welche Aufgaben beinhalten diese Stellen neben dem Orgelspiel?
Ich bin seit 2010 Dommusikdirektor an der Kathedrale von Chur in der Schweiz. Von 2013 bis 2023 war ich daneben auch als Kantor und Organist am Radolfzeller Münster tätig, was ungewöhnlich ist. Denn normalerweise ist das Aufgabenfeld so komplex, dass es einer Person kaum alleine gelingt, eine solche Stelle komplett abdecken zu können. In Chur hatte ich als Musikdirektor stets verschiedenste Mitarbeiter wie Domorganisten, Chorleiter, Kantoren Assistenten und Stimmbildner, die es mir erlaubten, einiges delegieren zu können und so sogar noch Platz für eine weitere Betätigung in Radolfzell zu haben.
Die Aufgaben eines Kirchenmusikers im Hauptberuf sind im Grunde: Orgelspiel bei allen Gottesdiensten und Leitung und Probenarbeit aller Chöre. Je nach Größe der Stelle können das ganz verschiedene Chöre sein, wie Knaben-, Mädchen-, Kinder-, Jugendchöre oder gemischte Chöre mit verschiedenen Ausrichtungen. Hinzu kommen oftmals auch noch diverse Instrumentalensembles wie Bläser oder Orchester, dann Stimmbildung für Kantoren, die in den Gottesdiensten die liturgischen Gesänge übernehmen. Es gibt also große und regelmäßige Probenarbeit, aber vor allem eines: extrem viel Organisation.

Lassen Sie uns über den Wiener Romantiker Hans Rott sprechen. Sie haben in Corona-Zeiten seine große Symphonie E-Dur für Orgel transkribiert, die Sie bis heute aufführen. Was reizt Sie an Hans Rott?
Rott war ein extrem begabter Komponist, der viel zu jung gestorben ist. Er wurde nicht einmal 26 Jahre alt, hatte sein ganzes Leben quasi noch vor sich. Dennoch ist seine Musik von einer solchen Einzigartigkeit, dass man in der Beschäftigung mit ihr eine Art von Möglichkeit bekommt, diesem Menschen mental persönlich begegnen zu können. Das ist faszinierend und unglaublich berührend.
Sie haben mehrere CDs aufgenommen, aktuell ist wieder eine in Arbeit, oder?
Seit dem Jahr 2023 nehme ich im österreichischen Dornbirn für das Label Ambiente Audio die gesamten Orgelwerke des Österreichischen Komponisten Franz Schmidt, der zwischen 1874 und 1939 lebte, auf. Die Werke haben den Ruf, haarsträubend schwer zu sein, sind jedoch sehr klangschön und faszinierend. Zwei CDs sind bereits auf dem Markt, die dritte, Volume 3, mit dem Titel „Halleluja“ wird in der dritten Juliwoche herauskommen.
Ihre Liebe zu und Faszination für Kirchenmusik ist im Gespräch stark spürbar. Wie ist es möglich, auch diejenigen Menschen zu erreichen, die vielleicht bisher noch keinen Zugang zur Kirchenmusik gefunden haben?
Keine einfache Frage. Kirchenmusik als solche ist heute vielschichtig. Wenn ich denke, dass mache großen Kirchengemeinden bereits auch sogenannte „Pop-Kantoren“ anstellen, dürfte mittlerweile sicher für jeden etwas dabei sein. Ob sich dieser Weg jedoch bewährt, wird sich im Laufe der Zeit zeigen. Persönlich bin ich der Meinung, dass die Meisterwerke der Kirchenmusik aus Barock, Klassik und Romantik unerreicht sind und dass das Erarbeiten und Aufführen dieser Werke, meist mit musikalischen Laien, für alle Beteiligen, ebenso für Musizierende wie Hörer, einfach zum puren Glückserlebnis wird. Jeder Chorsänger, der schon bei solchen Projekten mitgesungen hat, weiß gut, wovon ich rede.
Am 6. Juli geben Sie im Rahmen des Stadtfestes Aach ein Orgelkonzert in der Kirche St. Nikolaus. Unter dem Titel „Sommerfreude“ werden Sie unter anderem Werke von Bach und Rheinberger spielen.
Ja, und ich freue mich sehr auf diesen Anlass in Aach. Das Wochenende davor gebe ich noch ein anderes Orgelkonzert im Dom von Thorn, in Polen. In Aach werde ich ein farbenreiches, nicht allzu langes Programm mit Werken von Bach, Sweelinck und Rheinberger präsentieren. Unter dem Motto „Sommerfreude, Frische und Lebensfreude“ sollen die Töne am besten nur so sprudeln.