Nach langer Pandemie-Pause gibt es sie wieder, die beliebten Führungen, Vorträge und Wanderungen rund um das Mia- und Hermann-Hesse-Haus in Gaienhofen. Im Fokus stand zur Beginn der Saison die erste Frau des berühmten Schriftstellers: Mia Hesse. Wie lebte sie?
Eva Eberwein, die zusammen mit ihrem Mann das Haus 2003 vor dem Abriss rettete und es denkmalgerecht sanieren ließ, hat seit 2005 intensiv zu Mia Hesses Leben geforscht. In ihrer Führung ließ sie die Frau, die ihr Leben in den Dienst ihres Mannes stellte, lebendig werden.
Sie verliebte sich Hals über Kopf
1902 lernte Mia, die aus der angesehenen Baseler Familie Bernoulli stammte, den jungen Buchantiquar Hesse in Basel kennen. Sie war neun Jahre älter als er, verliebte sich laut den Schilderungen von Eva Eberwein aber Hals über Kopf in ihn. Mia betrieb mit ihrer Schwester ein Geschäft für Kunstfotografie in der Stadt, sie war die erste Berufsfotografin in der Schweiz.

1904 heiratete sie Hesse und fand für ihn ein Bauernhaus in Gaienhofen, weil er nicht in der Großstadt leben wollte. Hier lebten sie bis 1907. Das karge Leben ohne fließendes Wasser und ohne rechte Einkaufsmöglichkeiten kam ihrem reformgeprägtem Leben gerade recht. Die Dorfbewohner beäugten die freiheitsliebende Familie zwar argwöhnisch, wie es heißt. Mia Hesse aber fand das alles idyllisch und aufregend.
1905 wurde Sohn Bruno geboren. Doch im Jahr darauf kündigte der Bauer, dem das Haus gehörte, der Familie – angeblich wegen Eigenbedarfs.
Also baute sich Familie Hesse ihr eigenes Haus: 1907 beauftragten sie den befreundeten Baseler Architekten Hans Hindermann, den nötigen Kredit gewährte der Schwiegervater. Im Stil eines Schweizer Landhauses entstand das hochmoderne Haus außerhalb des Dorfes in strenger Formsprache, mit fließendem Wasser und Petroleum-Lampen. 1909 wurde Sohn Heiner geboren.
Der Alltag sog sie auf
In der winzigen Küche mit angeschlossener Speisekammer versorgte Mia die Familie, fuhr dreimal wöchentlich mit der Fähre nach Steckborn und mit der Thurgau-Bahn nach Konstanz. Dort kaufte sie ein, wie Eva Eberwein erläuterte, denn Hesse hatte beschlossen, Vegetarier zu werden. Das Essen wurde bescheidener, Wildkräuter wurden gesammelt, Sauerampfer mit Brot gebacken, der Garten für Selbstversorger angelegt.
Der einzige beheizte Raum war der Haupt-Aufenthaltsraum. Hier aß man, spielten die Kinder, bügelte, nähte und stickte Mia Hesse. Sie habe wahnsinnig viel zu tun, klagte sie laut Eva Eberwein, es sei eine mühsame Plackerei. Der Alltag sog sie auf, für das geliebte Klavierspiel und die Fotografie blieb wenig Zeit. Immer mehr Raum widmete sie dem Leben ihres launischen, bequemen Mannes und gab ihre Rolle als selbstbewusste Frau auf.

Hesse selbst wurde immer unzufriedener mit dem sesshaften Leben, reiste viel und ließ Frau und Kinder alleine. Mia Hesse schrieb in einem Brief: „Neben dir komme ich mir so sündhaft halb vor“, aber gestand ihm auch sein Eigenleben zu: „Ich will dich frei lassen.“ Doch immer mehr sah sie ein, dass sie nicht das Leben führte, das ihr einmal vorgeschwebt hatte.
Eine Künstlerin verfällt in Depressionen
Fotografien an den Wänden von ihren Verwandten zeigen den fortschrittlichen Stil von Mia Hesses Kunst: Geschickt spielte sie mit Licht und Schatten, zeigte die Personen in lebendiger Tätigkeit – ganz entgegen der steifen Fotografie der Gründerzeit, die Familien aufgereiht-statisch mit künstlichem Hintergrund ablichtete.
Von Hermann Hesse machte sie nur wenige Fotos, sie zeigen einen verschlossenen, nachdenklichen Mann. Lieber ließ Hesse sich in einem Münchener Atelier ablichten, auf diesen Fotos wirkt er aufgeschlossen und heiter. Mia entwickelte manische Depressionen, spürte, dass sie Hesse verlor, richtete das Atelier als ihr eigenes Schlafzimmer ein.
Die Ehe bröckelt trotz drittem Kind
1910 reiste das Ehepaar nach Graubünden zum Skifahren, Mia versprach sich wohl eine Festigung der zerbröckelnden Ehe. Hesse schrieb: „Aber meine Frau, die immer gern in die Berge geht, hat mir zu Weihnachten ein paar Ski geschenkt und mich dadurch zur Reise genötigt.“ 1911 war Mia erneut schwanger, ein drittes Kind hatte sie sich wohl nicht gewünscht. Sohn Martin wurde dennoch geboren.
Es war eine schwierige Geburt, das Kind nicht gesund und Hermann Hesse brach zu einer langen Reise nach Indonesien und Malaysia auf. Das Kinderzimmer zeigt in einer Vitrine noch heute die Spielzeuge der Kinder, die die Eltern selbst gebastelt hatten – ganz im Sinne der Reformpädagogik aus schlichtem, alltäglichem Material.
Abschied von Gaienhofen nach nur fünf Jahren
1912 verkauften Mia und Hermann Hesse das Haus in Gaienhofen, in dem sie nur fünf Jahre lebten, und zogen in ein Berner Landhaus. Psychische Krisen der beiden belasteten die Ehe, die Kinder wuchsen in pflegenden Familien auf. Mia blieb ihren Kindern aber zeitlebens innig verbunden. Doch sie hatte erkannt, dass sie bei ihrem Mann keine menschliche Wärme finden würde. Sie wollte nicht mehr ausschließlich für ihn leben, sich nicht mehr mit dem beschwerlichen Leben als Künstlerfrau zufriedengeben.
Die Ehe wurde 1923 schließlich geschieden. Mia zog in ein Häuschen in Ascona, das 1943 abbrannte, wobei auch die Briefe von Hesse an sie, ihre Fotos und ihr geliebter Flügel verbrannten. Danach zog sie zu Sohn Martin und starb 1963 im Alter von 95 Jahren, ein Jahr nach Hermann Hesse.
Rückkehr für ein versöhnliches Ende
In den 1960er-Jahren kam sie kurz vor ihrem Tod noch einmal nach Gaienhofen zurück, verbrachte Urlaubstage im Zelt am See – um Abschied zu nehmen von dem Ort, an dem sie Freuden, Sehnsüchte und Enttäuschungen in gehäuftem Maße erlebte.