„Die Stille ist schrecklich“, sagt Andrea Ferrari am Telefon, „ich höre immer die eigenen Schritte, wenn ich auf der Straße bin.“ Wenn – denn der 50-Jährige lebt in Lodi, der lombardischen Partnerstadt von Konstanz. Die eigenen Schritte höre er, weil die Menschen in Lodi kaum noch zeitgleich nach draußen gehen. Das öffentliche Leben ist dort weit früher zum Erliegen gekommen wie hierzulande.

Lodi wurde mit als erstes vom Coronavirus getroffen
Einmal pro Woche gehe er noch raus, um Einkäufe zu erledigen, Lebensmittel, das Nötigste. In Europa wurde die Region um die Konstanzer Partnerstadt mit als erste und mit am härtesten vom Coronavirus getroffen.
In Italien herrscht bereits das, was in Deutschland noch vermieden wurde: eine strikte Ausgangssperre. Mit Beginn dieser Woche müssen Fabriken ihre Produktion einstellen. Zuletzt meldete das Land fast 800 Tote binnen 24 Stunden. Andrea Ferrari berichtet von aktuell 340 corona-infizierten Personen in der Gegend um Lodi. „80 Menschen werden täglich in die Notaufnahme unseres Krankenhauses eingeliefert, 25 müssen intensivmedizinisch betreut werden“.
Ferrari war mehrere Jahre persönlicher Referent von Lodis Bürgermeister Lorenzo Guerini. Er hat in dieser Funktion enge Verbindungen zur deutschen Partnerstadt geknüpft und wendet sich mit einem Offenen Brief an „die lieben Konstanzer Freunde“.
Es ist ein Appell, sich nicht nur an strikte Vorgaben zu halten – sondern diese noch weiter zu verschärfen. So schreibt er: „Wir schließen uns in die Häuser ein, gehen nur noch zum Einkaufen oder für dringende Arztbesuche hinaus. Es scheint, dass diese Isolation das effektivste Mittel ist, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen oder sogar zu blockieren.“
„Müssen im Moment unsere Rechte einschränken“
Ferrari ist kein Antidemokrat: Der 50-Jährige ist wie sein früherer Chef Lorenzo Guerini Mitglied der sozialdemokratischen Partei Partito Democratico (PD). Guerini ist aktueller Verteidigungsminister. Und doch sagt Andrea Ferrari im Gespräch mit dem SÜDKURIER: „Für eine Zeit müssen unsere Rechte eingeschränkt werden, damit wir sie später wieder ausleben können.“
Er habe Angela Merkels Ansprache am Sonntag gehört, als in Deutschland weitere Einschränkungen für das öffentliche Leben angekündigt wurden, darunter: ein Kontaktverbot, eineinhalb bis zwei Meter Mindestabstand, Treffen in der Öffentlichkeit maximal noch zu zweit.
„An diesem Punkt waren wir auch“
„An diesem Punkt waren wir auch – vor zwei oder drei Wochen“, sagt Ferrari traurig. Er ist überzeugt: „Diese Schritte werden nicht ausreichen.“ Weil er täglich höre und lese, dass Menschen sterben. „Darunter sind Bekannte und Freunde von mir, in ihren 40er- oder 50er-Jahren, keine alten Leute.“ Die Friedhöfe seien mittlerweile geschlossen, öffentliche Bestattungen finden nicht mehr statt.

Er wohne nicht weit von einem Krankenhaus entfernt, Martinshorn und Blaulicht im Viertelstundentakt seien tägliche Begleiter geworden. Längst ist auch Militär auf den Straßen präsent. Er fürchtet daher: Eine Verschärfung in kleinen Schritten riskiere weitere Leben. „Es muss schlimm sein, eure Marktstätte menschenleer zu sehen, aber es geht nicht anders: Wir müssen alles stoppen“, sagt er.
Ferrari berichtet über seinen Alltag. „Morgens hole ich die Zeitung aus dem Briefkasten, beschäftige mich mit meiner Familie, telefoniere mit meinen Eltern.“ Das Leben sei verlangsamt, Läden sind längst geschlossen. „Es geschieht einfach nichts mehr“, fasst Ferrari zusammen.
Es sei schwierig, seinen beiden Kindern – sieben und neun Jahre alt – die Folgen dieser Krise zu erläutern. Für sie geht er davon aus, „dass das Schuljahr nicht mehr regulär enden kann“.
„Wir werden uns wiedersehen, wir werden gewinnen“
Wie lange uns das Coronavirus einschränken wird, will er nicht prognostizieren. Er geht aber davon aus, dass es „nicht einfach weitergeht wie zuvor, es wird unser Leben nachdrücklich verändern, aber es wird weitergehen“.
Bei aller Deutlichkeit, die Andrea Ferrari in seinen Worten wählt, ist er kein Fatalist. Er suche jeden Tag nach guten Nachrichten, freue sich über Meldungen über Entlassungen aus dem Krankenhaus; oder darüber, dass nun ein Team medizinischer Spezialisten aus Kuba nach Italien eingeflogen sind. In Richtung Konstanz sagt er: „Bleibt mit uns in Kontakt, wir werden uns wiedersehen, wir werden gewinnen.“ Nicht in aller Stille, sondern dann wieder voller Lautstärke.