Der Stiefvater habe seine Stieftochter angefasst, pornografische Fotos von ihr angefertigt, sie gezwungen, ihn zu befriedigen. Einige Jahre später soll er sie mehrfach vergewaltigt haben. All das und noch mehr steht in der Anklage, die Staatsanwalt Christian Schubert bei einer Verhandlung am Landgericht Konstanz verliest. Die Suche nach der Wahrheit erweist sich an diesem ersten Verhandlungstag als schwierig. Auch, weil die Mutter des Mädchens die Vorwürfe für erfunden hält.

Unter dem Vorwand, ihr aus einem Buch vorzulesen, habe er sich zu ihr ins Bett gelegt und sie berührt. Damals war Nora L. (Anm. d. Red: Name von der Redaktion geändert) sieben Jahre alt. Mit 14 soll er sie das erste Mal vergewaltigt haben. Der 29-jährige Mann auf der Anklagebank trägt ein hellblaues Hemd und eine Brille. Er hört dem Staatsanwalt aufmerksam zu, wirkt jedoch emotional unberührt. Zu den schweren Vorwürfen äußert er sich nicht.

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Lediglich ein Gesprächsprotokoll der Gerichtshilfe, das Richter Joachim Dospil im Saal verliest, gibt Einblicke in das Leben des Angeklagten. Darin berichtete dieser von einer sorglosen Kindheit und – Jahre später – einem guten Verhältnis zu seiner Stieftochter. Nora L. habe ihn sogar Papa genannt, gab der 29-Jährige an. Das sollte sich erst ändern, als 2021 die „haltlosen Missbrauchsvorwürfe“, wie er sie nannte, auftauchten. Der Mann sehe sich als Opfer falscher Anschuldigungen, heißt es in dem Protokoll weiter.

Kriminalbeamter hält Nora L. für glaubwürdig

Neun Zeugen sagen an diesem Tag im Schwurgerichtssaal aus. Unter ihnen der leitende Kriminalbeamte des Falls. Über die Aussage, die Nora L. bei der Polizei zuvor gemacht hatte, sagt der 43-Jährige: „Sie hat gewisse Details genannt – für mich klang das durchaus glaubhaft.“

So habe sich das Mädchen beispielsweise an einen bestimmten Tag erinnern können, an dem ihr Stiefvater sie nach dem Geschlechtsverkehr zur Apotheke geschickt habe. Weil das Kondom gerissen war, habe sie sich die Pille danach kaufen sollen. Dass eine 15-Jährige das Medikament genau an jenem Tag gekauft hatte, konnten Mitarbeiter der Apotheke anhand eines damals ausgestellten Beratungsbogens bestätigen. Die gynäkologische Untersuchung hingegen habe keine eindeutigen Beweise ergeben, so der Beamte.

Angeklagter habe Stieftochter unter Druck gesetzt

Wenig später ruft der Richter die Großmutter von Nora L. in den Zeugenstand. Dort schildert sie, wie sich das Mädchen ihr im Oktober 2021 anvertraut habe. Acht Jahre, nachdem ihr Stiefvater sie das erste Mal missbraucht haben soll. „Du musst mir ganz ganz fest versprechen, dass du es niemandem sagst“, habe das Kind ihre Oma gebeten.

Erst nach mehrfachem Nachfragen erzählt sie ihr schließlich von dem Missbrauch. „Ich war so geschockt“, erinnert sich die Zeugin. „Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte.“ Warum ihre Enkeltochter ihr nicht früher davon erzählt hat, habe sie wissen wollen. Weil ihr Stiefvater sie unter Druck gesetzt habe, so das Mädchen. Man würde ihr sowieso nicht glauben, die Familie würde kaputt gehen.

Großmutter glaubt ihrem Enkelkind

„Glauben sie ihr?“, will der Richter wenig später von der Zeugin wissen. Diese antwortet unmittelbar: „Ja, ich glaube meiner Enkeltochter.“ Zwar habe das Mädchen hin und wieder geflunkert und sei auch ein wenig rebellisch. Eine solche Lüge traue sie ihr aber keinesfalls zu.

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Am Folgetag habe die Großmutter ihre Tochter mit den Vorwürfen konfrontiert, berichtet sie weiter. „Ihre Reaktion hat mich schockiert“, sagt sie. „Sie hat ihrer Tochter einfach nicht geglaubt.“ Die Stimme der Zeugin bricht für einen Moment lang weg. Sie beginnt zu weinen. Sie habe zu ihrer Tochter immer Kontakt gehabt. „Aber seitdem nicht mehr“, so die Großmutter.

Anders als die Oma, glaubt die Mutter von Nora L. ihrer Tochter bis heute nicht. Das macht sie in ihrer Zeugenaussage mehrfach deutlich. „Aus allen Wolken gefallen“ sei sie, als sie von den Missbrauchsvorwürfen erfuhr. Ihre Tochter habe nie zuvor etwas erwähnt, sagt die 40-Jähige und fügt an: „Hätte sie es mir früher erzählt, hätte ich sofort gehandelt. Ich hätte die Schlösser ausgetauscht, meinen Mann rausgeschmissen und wäre mit ihr zur Polizei gegangen.“

Sichtlich irritiert will Richter Dospil wissen: „Damals hätten sie Ihrer Tochter geglaubt, heute glauben Sie ihr nicht?“ Die 40-Jährige entgegnet: „Nicht so ganz.“ „Was heißt das? Glauben Sie ihr halb?“, bohrt Dospil weiter. Ihre Tochter habe es nicht so mit der Wahrheit, so die Frau. Sie habe ohnehin zu ihrer Tante ziehen wollen, deshalb habe sie die Geschichte erfunden. Inzwischen lebt Nora L. in einem Kinderdorf.

Mutter und Tochter haben keinen Kontakt mehr

Obwohl sie Nora L. als launisch bezeichnet, beschreibt die Mutter das Verhältnis zu ihrer Tochter als gut. Zumindest, bis die Vorwürfe auftauchten. Mittlerweile bestehe auf Wunsch ihrer Tochter kein Kontakt mehr. Wegen der Vorwürfe gegen ihren Mann habe das Paar auch das gemeinsame Kind an eine Pflegefamilie geben müssen, sagt die 40-Jährige. Ihre Ehe hingegen sei bis heute glücklich.

Gerade als Joachim Dospil die Verhandlung beenden will, meldet sich eine Freundin der Großmutter aus den Zuschauerreihen. Auch sie hatte zuvor als Zeugin ausgesagt. Die 60-Jährige wirkt empört über die Aussage der Mutter.

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„Dass sie ein gutes Verhältnis zu ihrer Tochter hatte, ist sowas von verlogen“, entfährt es ihr. „Das kann ich so nicht stehen lassen.“ Sie habe der Mutter von Nora L. oft geraten, nicht so harsch zu sein, sich Hilfe beim Jugendamt zu suchen. „Nichts hat sie gemacht. Das hat das Kind nicht verdient“, findet die Zeugin.

Um sie nicht zu erneut zu traumatisieren, wurde Nora L. nicht persönlich zu einer Aussage geladen. Ein zuvor aufgenommenes Video ihrer richterlichen Vernehmung wird jedoch im Saal gezeigt. Dieser Teil der Verhandlung findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Verhandlung soll am Dienstag, 19. September, fortgesetzt werden. Am 21. September soll ein Urteil fallen. Es gilt die Unschuldsvermutung.