„Ich liebe die Menschen“, sagt Martina Kaiser, und man nimmt es ihr auf Anhieb ab. Ihren Beruf bezeichnet sie nicht als Job, sondern als Berufung. Während wir darüber sprechen, wie alles in den 1980er-Jahren begonnen hat, klingelt mehrfach das Telefon. Sie hat auf den Anruf gewartet. Am anderen Ende ist jemand von der Heimaufsicht. Eigentlich hat Martina Kaiser Urlaub. Aber der Beruf lässt sie eben doch nicht los.

Begonnen hat alles mit ihrem Einsatz als Sonntagshelferin. In den 1980er-Jahren war das für viele junge Frauen eine willkommene Gelegenheit, um sich ein bisschen Taschengeld zu verdienen und in den Pflegeberuf reinzuschnuppern.
Martina Kaiser hatte einen ganz profanen Grund: Sie brauchte Spritgeld für ihr Mofa. Da kam die Aufwandsentschädigung für den Sonntagsdienst im Krankenhaus ganz gelegen.
Spritgeld für das Hercules-Mofa
Der Dienst auf der Wochenstation war für die junge Helferin aber so interessant, dass hier die Weichen für ihr späteres soziales Engagement gestellt wurden. „Ich fühlte mich im Team der Ärzte und Schwestern vollkommen akzeptiert. Ich war so stolz, dass ich die Neugeborenen vom Kinderzimmer zu ihren Müttern bringen durfte“, erzählt sie. Dieses Vertrauen habe sie gestärkt und ermuntert, einen sozialen Beruf zu ergreifen.

Ähnlich erging es ihrer Schwester Ursula Amann. Vier Jahre lang hat sie als Sonntagshelferin zuerst in der Krankenhausküche, dann in der Chirurgie geholfen. Sie engagierte sich beim Roten Kreuz, wo sie noch heute Erste-Hilfe-Kurse gibt, und ließ sich zur Krankenschwester ausbilden.

„Damals hatte jede Station ein Sonntagsmädchen“, erinnern sich die beiden Schwestern. Ausgelöst wurde dieses Interesse durch die Aktion Gemeinsinn, die von 1957 bis 2015 das Ziel hatte, ehrenamtliches Engagement für gesellschaftliche Themen zu stärken und zum Wohle der Menschen zu arbeiten. Bei den Seidler-Schwestern Martina und Ursula sowie für viele andere junge Menschen war das der Auslöser für ein dauerhaftes soziales Engagement.
Martina Kaiser entschied sich zunächst für den Beruf der Erzieherin, stieg dann aber bei der Behindertenhilfe der Caritas ein, wo sie heute im Fachbereich Wohnen für rund 100 Bewohner in fünf Häusern in leitender Funktion tätig ist. Hier muss sie Einsatzpläne erstellen, Personal akquirieren und Fördergelder auftreiben.

Eine besondere Herausforderung stellt die Corona-Pandemie dar. Menschen mit Behinderungen sind nicht immer in der Lage, die Abstands- und Hygienevorschriften einzuhalten. Sie brauchen Alltagsbegleiter, zum Beispiel, um Sport zu treiben oder auch nur in ein Café zu gehen.
Martina Kaiser hat mit Unterstützung von Aktion Mensch ein Projekt mit der Bezeichnung „Assistenz und Begleitung zu Zeiten von Corona im Hegau“ gestartet, in dem Ehrenamtliche solche Wünsche erfüllen.

Besonders stolz ist Martina Kaiser auf ihre jüngstes Projekt „Zweite Hilfe inklusive“. „Das verbindet mich wieder mit dem Krankenhaus“, erklärt sie. Auf Zuruf gehen Zweierteams in die Kliniken in Singen, Radolfzell, Konstanz oder Stockach, wenn ein Mensch mit Behinderung oder auch das Ärzteteam Unterstützung bei der Verständigung benötigen.
Dieses Projekt hat Vorzeigecharakter. Deshalb wurde Martina Kaiser 2019 zusammen mit 18 weiteren Singenern mit und ohne Behinderung von der Berufsgenossenschaft Wohlfahrtspflege zum Ärztekongress nach Hamburg eingeladen, um zu erzählen, wie die Verständigung im Krankheitsfall funktioniert.