Singen – Shalom – mit dieser hebräischen Grußformel begrüßte Siegmund Kopitzki die Gäste im Theater „Die Färbe“ zur Matinee über Jüdische Kultur in der Region. Der Terrorangriff der Hamas in Israel hatte weltweit zu antisemitischer Propaganda und Gewalt geführt. Dieses Ereignis nahmen die Veranstalter zum Anlass, an die Jüdische Kultur im Hegau zu erinnern. Fast 86 Jahre nach den Novemberpogromen im Jahr 1938 sind Jüdinnen und Juden in Deutschland heute wieder in Sorge um ihre Existenz. „Wir wollen dazu nicht schweigen und ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen“, sagte Siegmund Kopitzki. „Nie wieder ist jetzt! Nie wieder für alle“, zitierte er den Aufruf zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. „Wir bekennen uns zu unserer historischen Verantwortung und stellen uns schützend an die Seite von Jüdinnen und Juden“, so Kopitzki.
Ruth Frenk, Sängerin aus Konstanz und als Jüdin in den Niederlanden geboren, lebt seit 50 Jahren in Deutschland. Heute werde sie auf Tourneen unter Polizeischutz begleitet und ihre große Familie sei verraten und ermordet worden, sagte sie zu Beginn. Sie hatte Gedichte ihrer Tante, der jüdischen Dichterin und Essayistin Emma Kann (1914 bis 2009) mitgebracht und erzählte über deren Leben. Ihre Tante habe im Jahr 1933 nicht studieren dürfen und ging zunächst nach England. Als sie 1936 nach Deutschland zurück wollte, sei ihr an der Grenze mitgeteilt worden, dass sie ausgebürgert worden war. 1981 sei sie nach Konstanz gekommen. „Leider haben ihre Gedichte wieder beängstigende Aktualität erlangt“, sagte Frenk, nachdem sie einige Gedichte rezitiert hatte.
Stephan Glunk (Lehrer an der Hohentwiel-Gewerbeschule) las die 1947 veröffentlichte Kurzerzählung „Saisonbeginn“ der christlich orientierten Schriftstellerin Elisabeth Langgässer (1899 bis 1950). In dieser Erzählung wird erst ganz am Ende die Aufschrift auf dem Schild enthüllt, auf dem es heißt „In diesem Kurort sind Juden unerwünscht“. Wenn er seinen Schülern diesen Text vorgelesen habe, sei die Reaktion immer gewesen, dass man ihn nun noch mal lesen müsse“, sagte Glunk.
Wolfgang Kramer (ehemaliger Kreisarchivar) erzählte von seiner Recherche über den jüdischen Cellisten, Pianisten und Arzt Dagobert Rynar (1897 bis 1969), der von 1931 bis 1937 in Engen wohnte. Er habe im Rahmen einer Stolperstein-Aktion nach Juden, Vertriebenen oder Ermordeten gesucht, die in Engen gewohnt hatten. „Meine wichtigste Quelle waren die Erinnerungen von Elke Stich“, sagte Kramer. Sie habe ihn auf den einzigen Juden in Engen aufmerksam gemacht. Dagobert Rynar praktizierte in Engen als Arzt, was aber ab 1933 zunehmend unmöglich wurde, weil er seine Zulassung verlor. Rynar sei aber auch ein großer Musiker gewesen und hatte Kontakte zu Albert Einstein. Veronika Netzhammer hatte die Erinnerungen von Hannelore König (1925 bis 2012) mitgebracht. König war die Tochter des jüdischen Arztes Nathan Wolf (1882 bis 1970) aus Wangen. Netzhammer las Ausschnitte über die Zeit, als Hannelore König miterleben musste, dass ihre Großmutter und Tante abgeholt wurden und ins Lager nach Gurs am Fuß der Pyrenäen kamen. Dagmar Schmieder aus Gailingen las aus den Tagebuchaufzeichnungen von Heinz Heilbronn (1920 bis 1972), der aus Gailingen stammte und der letzte Schüler war, der in der dunklen Zeit am Hegau-Gymnasium Singen das Abitur machen durfte.
Gerd Zahner hat für das Theaterstück „Duft der Steine“, das 2017 in Radolfzell aufgeführt wurde, über die Radolfzeller Jüdin Alice Fleischel (1873 bis 1941) recherchiert. Er erinnert in seinem Beitrag auch an die Verschleppung von insgesamt 6400 Juden aus Südbaden in das Lager in Gurs in Südfrankreich. Alice Fleischel starb 1941 in diesem Lager. Daniel Leers, Schauspieler in der Färbe, las die Erzählung „Das Los“ von Jacob Picard (1883 bis 1967), der in Wangen geboren wurde und als Chronist des Landjudentums bekannt ist. Manfred Bosch hatte den Text „Glimpf geht über Schimpf“ aus den Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel (1760 bis 1826) aus dem Jahr 1813 ausgewählt.
Schirmherr OB Bernd Häusler betonte in seinem Schlusswort, dass Singen schon lange eine hervorragende Erinnerungskultur pflege, zum Beispiel durch die Aktion Stolpersteine oder die Geschichtsarbeit des vor kurzem verstorbenen Willi Waibel.