Die Wahrheit ist manchmal ein mühsames Geschäft. Das erleben derzeit alle, die den Prozess um eine Messerattacke verfolgen, die sich Mitte Dezember beim Friedrich-Ebert-Platz in Singen zugetragen hat. Klar ist bisher: Eine größere Gruppe von Männern hat eine kleinere Gruppe von Männern, die in einem VW-Bus unterwegs war, angegriffen. Eines der Opfer wurde lebensgefährlich verletzt, zwei weitere Männer trugen schwere Verletzungen davon. Acht Angeklagte sitzen derzeit in Untersuchungshaft und müssen sich wegen des Vorwurfs des versuchten Totschlags, der gefährlichen Körperverletzung und Sachbeschädigung vor dem Landgericht Konstanz verantworten. Weil in Konstanz die Sitzungssäle nicht groß genug sind, findet der Prozess im Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim statt.

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Alle Beteiligten haben syrischen Migrationshintergrund, was das Geschäft der Wahrheitsfindung nicht unbedingt erleichtert. Das ganze Verfahren wird von Dolmetschern simultan ins Arabische übersetzt. Und am zweiten Verhandlungstag gab es gleich zu Beginn eine Diskussion darüber, ob die Übersetzung eines arabischen Worts in einem Chat, einer Unterhaltung im Internet, nun korrekt war oder nicht.

Um das ging es am zweiten Verhandlungstag im Prozess um die Messerattacke von Mitte Dezember: Zeugenvideos – hier ein Standbild ...
Um das ging es am zweiten Verhandlungstag im Prozess um die Messerattacke von Mitte Dezember: Zeugenvideos – hier ein Standbild – wurden ausgewertet. | Bild: Screenshot

Christoph Nix, einer von drei Verteidigern des Angeklagten Samir A., stellte für alle drei Anwälte einen Beweisantrag auf ein sprachwissenschaftliches Gutachten. Im arabisch verfassten Chat heiße es nicht „wir sollten ihn schlagen und töten“, sondern nur „wir sollten ihn schlagen“ – ein für die Einordnung der Tat wichtiger Unterschied. Die Staatsanwaltschaft stütze ihre Anklage unter anderem auf Chatnachrichten, von denen schon jetzt klar sei, dass die Übersetzung falsch sei, so Nix. Nach dem Hinweis des Vorsitzenden Richters Joachim Dospil, dass ein solches Gutachten nach hinten losgehen könne – nämlich wenn es zum Schluss komme, es sei von Töten die Rede gewesen – und nach einer Beratung unter allen 15 Verteidigern zogen die drei Anwälte den Antrag zurück.

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Und es wurde klar: Es geht um die Deutungshoheit. So übte dieselbe Gruppe von Anwälten, zu denen neben Nix auch Sylvester Kraemer und Andreas Hennemann gehören, Kritik daran, dass der Nebenkläger, der auch das Hauptopfer der Attacke war, und die Staatsanwaltschaft außerhalb des Gerichtssaals mit Medien sprächen. Es werde Stimmung gegen die Angeklagten gemacht, die Verteidigung befürchte eine Vorverurteilung, so Hennemann. Es gebe Sorge um ein faires Verfahren, so Kraemer. Dabei treffen auch Angehörige der Angeklagten außerhalb des Gerichtsgebäudes öffentliche Aussagen über den Konflikt. Doch: Die Beweise zu würdigen, obliege dem Gericht, stellte Richter Dospil mehrfach klar.

15 Verteidiger stehen den acht Angeklagten bei – manche davon sind über Juristen-Kreise hinaus bekannt

Auf der Seite der Verteidigung sitzen Oberstaatsanwalt Ulrich Gerlach nicht weniger als 15 Verteidiger gegenüber, darunter auch Anwälte, die am westlichen Bodensee über Juristen-Kreise hinaus bekannt sind. Nix war bis Sommer 2020 Intendant des Konstanzer Stadttheaters, Hennemann trat als Kandidat der SPD bei der Konstanzer Oberbürgermeisterwahl an und Gerhard Zahner, der einen anderen Angeklagten vertritt, ist der breiteren Öffentlichkeit als Autor von Theaterstücken bekannt. Für seinen Mandanten versuchte Zahner mehrfach, die Eindeutigkeit von Schlüssen in Zweifel zu ziehen, etwa durch die Frage, ob die Angeklagten nach der Attacke nicht die Kleidung getauscht haben könnten.

Das Oberlandesgericht in Stuttgart. Hier findet der Prozess statt, weil am Konstanzer Landgericht die Räume nicht groß genug sind.
Das Oberlandesgericht in Stuttgart. Hier findet der Prozess statt, weil am Konstanzer Landgericht die Räume nicht groß genug sind. | Bild: Freißmann, Stephan

Dabei gab es am Ende des zweiten Verhandlungstages noch eine Überraschung. Einer der Angeklagten, Jehad E., ließ über seinen Verteidiger Nicolas Doubleday ein Teilgeständnis abgeben, mit dem er sich später per Dolmetscher einverstanden erklärte. Demnach räumte er ein, was eine ausführliche Analyse von Videos schon nahegelegt hatte: Er habe mit einer langen Stange Schläge ausgeteilt. Eine Kriminalbeamtin hatte aufgrund der Videos geschlossen, dass E. von einem anderen Angeklagten einen Gegenstand, vielleicht ein Radkreuz, bekommen und damit im Bereich der Beifahrerseite des angegriffenen Autos zum Schlag ausgeholt habe.

Auch mit Hilfe des Landeskriminalamts habe sie die Videos ausgewertet, so die Polizistin. Welcher der Angeklagten hat bei dem Angriff im Dezember was getan, wer hatte welche Art von Gegenstand in der Hand? Die Handy-Videos, die von Zeugen gemacht wurden, ließen einige Rückschlüsse zu. Sein Mandant habe eingesehen, dass er um eine Strafe nicht herumkomme, sagte Doubleday. Doch er und die zweite Verteidigerin Irene Rau legten Wert darauf, dass es sich nur um ein Teilgeständnis handle, nicht um ein volles Geständnis im Sinne der Anklage. Die Angeklagten hatte bis dahin noch keine Angaben zur Sache gemacht, weswegen auch ein eigentlich vorgesehener zweiter Verhandlungstag in der vergangenen Woche ausgefallen war.

Der Prozess wird am Mittwoch, 22. September, im Justizkomplex in Stuttgart-Stammheim fortgesetzt.