Mit Mathias Graf kommt man leicht ins Gespräch. Der gebürtige Hegauer versteckt sich nicht hinter Fachjargon und beschönigenden Worten. Er gestikuliert und lacht, teilt sich gerne mit. Aber Mathias Graf kann auch zuhören. Und das ist in seinem Beruf wahrscheinlich sogar noch wichtiger. Seit 1997 berät der Psychotherapeut und Geschäftsführer von Pro Familia Singen Paare, die in ihrer Beziehung an Grenzen stoßen. Ein häufiger Auslöser: Untreue.

„Ein Seitensprung führt in vielen Fällen zu Vorwürfen und Streit“, berichtet Graf. „Wenn die Partner das Gefühl haben, dass sie nicht mehr weiterkommen, dass sie einen Moderator für ihren Konflikt brauchen, landen sie häufig bei uns“, erklärt er.
„Aber in einer Beratungsstelle tauchen natürlich nur die Paare auf, bei denen es herausgekommen ist, dass einer der Partner eine Affäre hat oder hatte“, fügt der Therapeut hinzu. Wie hoch die Fremdgeh-Quote unter den Paaren unserer Region tatsächlich ist, mag er deshalb nicht abschätzen. Für Graf steht aber fest, dass die Gründe, eine Affäre einzugehen, extrem vielfältig sind.
Um das komplexe Thema Untreue für SÜDKURIER-Leser greifbarer zu machen, haben wir den Therapeuten gebeten, uns Situationen zu schildern, mit denen er in der Vergangenheit konfrontiert war. In jeder dieser Situationen suchten Frauen oder Männer seinen Rat, nachdem einer der beiden Partner eine Affäre eingegangen war. Graf zeigt auf, welche Gründe dazu geführt haben könnten. Und er erzählt, wie er als Therapeut versucht hat, den Betroffenen zu helfen.
Szenario 1: Sex als Pflichtaufgabe
„Schon in den ersten Sitzungen gaben beide zu, dass sich ihre Beziehung mehr in Richtung einer gut funktionierenden Wohngemeinschaft entwickelt hat“, erzählt der Therapeut. „Sie stellten sich die Frage: Lässt sich unsere Partnerschaft neu beleben?“
Nach eineinhalb Jahren Beratung würde Mathias Graf diese Frage mit Ja beantworten. „Der Mann hat seine Affäre beendet, die Beziehung der beiden wurde wieder lebendiger.“ Wie das gelungen ist? „In einer Beziehung sollten beide Partner auch für sich alleine stehen und unabhängig vom anderen zufrieden sein können. Leider passiert es heutzutage oft, dass wir unsere Beziehungen überfrachten“, beobachtet der Therapeut. Ein besonderes Problem ist dabei die Erwartungshaltung. „Wir denken, jeder gemeinsame Tag müsste sich anfühlen wie der Hochzeitstag.“

„Und wenn das dann nicht mehr der Fall ist, wird eine vermeintlich spannende Affäre umso attraktiver“, erklärt Graf.
Szenario 2: Im Jagdrausch
„In diesem Fall lag der Untreue eine narzisstische Motivation zu Grunde“, erklärt Mathias Graf. Ähnlich wie im ersten Szenario sei beiden Partnern wichtig gewesen, an ihrer Beziehung festzuhalten. Ein Jahr lang sei der Mann daraufhin zur Einzelberatung gekommen. In diesen Gesprächen sei es darum gegangen, aufzuarbeiten, warum er so stark auf Zuspruch und Anerkennung von außen angewiesen ist und wie er mit diesem Verlangen umgehen kann. Aus Mathias Grafs Sicht hat diese Arbeit letztlich Früchte getragen.
Szenario 3: Ein Opfer wird zum Schuldigen gemacht
„Generell gilt: Wenn nicht beide, sondern nur einer der Partner zu uns kommt, ist der Ausgang für uns als Therapeuten schwer abzuschätzen“, schickt Mathias Graf voraus. In diesem Fall sei ein Mann bei ihm vorstellig geworden. Im Verlauf des Beratungstermins stellt sich aber heraus, dass seine Freundin ihn zur Beratungsstelle geschickt hat.
Graf habe dem Mann, der vorhatte, sich brav dem Willen der Partnerin zu beugen, daraufhin nahegelegt, dass es sich lohne, generell über das Thema Selbstbewusstsein zu sprechen. „Das hat er auch akzeptiert, solange es um berufliche Belange und Ähnliches ging. Als dann aber die Beziehung zu seiner Freundin ins Spiel kam, hat er es sichtbar mit der Angst zu tun bekommen. Es blieb leider bei diesem einen Gespräch, danach habe ich ihn nie mehr gesehen.“
Ein für Mathias Graf nicht unbedingt positiver Ausgang. Denn ihm als Therapeuten geht es nicht darum, eine Beziehung um jeden Preis zu retten. „Wenn einer der beiden Partner unter der Beziehung leidet, ist auch ein möglichst einvernehmliches Ende der Beziehung ein sehr respektables Beratungsziel.“
Szenario 4: Guter Rat von guten Freunden
„Eine solche Konstellation hat aus Sicht des Paarberaters eine hohe Erfolgsquote“, betont Mathias Graf. Tatsächlich sei es dann auch innerhalb eines halben Jahres gelungen, die Beziehung zu stärken. Wie?
„Generell geht es in unseren Sitzungen üblicherweise nicht darum, in der Vergangenheit herumzustochern“, berichtet Graf. „Stattdessen versuchen wir, das Schöne herauszuarbeiten. Die Gründe, die beide Partner überhaupt dazu bewegt haben, zusammen zu kommen.“ Vielen Paaren gelänge es auf diese Weise, Zuneigung füreinander neu zu entdecken. „So war es auch bei dem beschriebenen Paar“, sagt Graf erfreut. Er räumt allerdings ein, dass beide Partner ihren Alltag bewusst neu strukturiert hätten, um so produktiv Zeit miteinander verbringen zu können.
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Szenario 5: Vom Partner beschimpft
Dass eine Beratung bei Pro Familia auch in eine Trennung münden kann, beweist das nächste Beispiel. Bevor er ins Detail geht, stellt Mathias Graf aber die folgende Erkenntnis voraus: „Selbst wenn die eigene Frau nur Sex ohne viel Gefühle mit einem anderen Mann hat, ist das für den männlichen Partner häufig schlimmer, als wenn sie ‚nur‘ Gefühle für ihren Geliebten hat. Für viele Frauen hingegen ist es schlimmer, wenn ihr Mann Gefühle für eine andere Frau entwickelt, als wenn er ‚nur‘ Sex mit ihr hat.“
Der Pro-Familia-Geschäftsführer erklärt diese geschlechtsspezifischen Auffassungen mit der Evolutionstheorie: „Vereinfacht formuliert, möchte der Mann auf keinen Fall Nachwuchs aufziehen, der nicht sein Erbgut trägt. Die Frau dagegen möchte nicht, dass ihr Mann sich außerhalb statt in der eigenen Familie engagiert.“
„Sich wertvoll fühlen, geschätzt werden, Aufmerksamkeit erhalten: All das sind entscheidende Gründe, sich auf eine Affäre einzulassen“, erklärt Mathias Graf. Umso wichtiger sei es, innerhalb einer Beziehung sicherzustellen, dass gegenseitige Wertschätzung erfahrbar wird.
Szenario 6: Angst vor dem Affären-Baby
„Letztlich waren die beiden durch den Gesetzgeber dazu verpflichtet, unsere Beratung in Anspruch zu nehmen“, beschreibt Mathias Graf die auch für ihn kuriose Situation. „Häufig kommt es allerdings nicht vor, dass zwei Menschen, die eine Affäre miteinander eingehen, so einig und gefestigt wirken“, erzählt er.
Viel öfter erlebe er, dass einer der beiden Affären-Partner darauf wartet, dass der andere seine Beziehung beendet. „In so einem Fall gilt bei uns die Daumenregel, dass man nie länger als ein halbes Jahr darauf warten sollte, dass der andere mit seinem Beziehungspartner Schluss macht“, ergänzt Graf.
Das beschriebene Affären-Pärchen habe er bis zum Schwangerschaftsabbruch begleitet. Was danach aus ihnen wurde, weiß der Psychologe nicht. Für Mathias Graf zeigt diese Art von Partnerschaft einmal mehr, wie vielfältig Affären sein können.