Einen positiven Nebeneffekt konnte Mathias Graf direkt beim ersten Gespräch beobachten: Nähe. „Damit man beide auf dem Bildschirm sieht, muss das Paar deutlich enger zusammensitzen als das bei uns im Beratungszimmer der Fall wäre“, berichtet der Diplom-Psychologe. „Das hat dazu geführt, dass die beiden die meiste Zeit Arm in Arm da saßen.“ Eineinhalb Stunden mit dem Partner umschlungen? Das alleine könnte bereits einen paartherapeutischen Effekt haben, meint Mathias Graf und schmunzelt.

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Seit 1997 berät der Geschäftsführer von Pro Familia Singen Frauen und Männer, die in ihrer Beziehung an Grenzen stoßen. Dass er und seine Klienten dabei kilometerweit entfernt und nur über zwei Laptop-Kameras verbunden sind, ist aber auch für einen alten Hasen wie ihn eine neue Erfahrung.

Als die Krise eskaliert

„Freitag, der Dreizehnte: Das war der Tag, nachdem alles eskaliert ist“, blickt er zurück. Am darauffolgenden Wochenende habe Pro Familia zunächst alle Beratungstermine abgesagt. „Davon betroffen waren unsere drei wichtigsten Angebote: die soziale Beratung bei der Schwangerschaft, die Schwangerschaftskonfliktberatung und die psychologische Beratung für Einzelne und Paare“, erklärt Graf.

Inzwischen sei es aber gelungen, diese Angebote trotz der Corona-Krise wieder aufzunehmen – entweder per Telefon oder per Videokonferenz. „Wir lassen zwar niemanden mehr herein, aber alle Formen der Beratung finden wieder statt“, fasst Mathias Graf zusammen.

Schwangerschaftsberatung mit Hindernissen

Ohne Komplikationen sei der Weg dahin nicht gewesen, gibt er offen zu: „Gerade bei den gesetzlich vorgeschriebenen Beratungsgesprächen, die Voraussetzung für den Abbruch einer Schwangerschaft sind, hatten wir anfangs, als wir nur telefonieren konnten, Probleme“, sagt Graf. „Zum Beispiel, wenn die jeweilige Klientin kein Deutsch sprach und wir auf einen Dolmetscher angewiesen waren. Wenn du das Gesicht des Gesprächspartners nicht siehst, ist es schwer einzuschätzen, welche Informationen tatsächlich bei ihm ankommen.“

Jetzt, einige Wochen später, sei es – ebenfalls über Videokonferenzen – gelungen, die Beratungsstellen in Baden-Württemberg soweit zu vernetzen, dass man die Klienten an Berater weiterverweisen kann, die den verschiedensten Sprachen mächtig sind.

Druck für ohnehin belastete Beziehungen

Mathias Graf vermutet, dass die jetzige Situation aber nicht nur seine Beratungsstelle herausfordert, sondern auch die Paare im Hegau. „Klar, manche empfinden diese Phase als Chance, wieder Zeit füreinander zu haben.“ Als mindestens genauso groß schätzt er aber das Risiko für Paare ein, deren Beziehung ohnehin gefährdet ist. „Für sie könnte die Corona-Krise zum Schmelztiegel werden“, glaubt der Therapeut. Er rechnet damit, dass sich solche Paare künftig bei Pro Familia melden werden.

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Bislang hatte er in seinen Video-Beratungsgesprächen allerdings nur mit Frauen und Männern zu tun, die er aus Vor-Corona-Zeiten kennt. „Man ist in diesen Videotelefonaten schon etwas limitierter als in der Face-to-Face-Kommunikation“, schildert Graf die ersten Erfahrungen. Bestimmte Übungen, bei denen die Paare aufstehen und sich zueinander positionieren, seien aufgrund der eingeschränkten Perspektive zum Beispiel nicht möglich.

Der Therapeut will keine Wohnungsführung

Entscheidender ist für den Psychologen allerdings, dass die Grenze zwischen Privatem und Professionellem aufgeweicht wird. „Eine Klientin hat mir sogar angeboten, mich per Laptop durch die Wohnung zu führen“, berichtet er und schmunzelt. „Ich habe dankend abgelehnt.“

Der Grund: Gerade jetzt, wo sich die Klienten während der Beratung außerhalb der schallsicheren Räumlichkeiten von Pro Familia befinden, sei es wichtig, die Privatsphäre zu schützen. „Egal ob als Paar oder Einzelperson, funktionieren kann ein Beratungsgespräch immer nur, wenn man sich wirklich ungestört fühlt.“