In Alexander Flüglers Lebensgeschichte deutet wenig auf das hin, was er jetzt erreicht hat: „1962 wurden wir Jenischen in Singen sesshaft gemacht“, erzählt er – und zwar in Baracken, „wo man heute keinen Hund reinstecken würde“. Ihre Freizeit hätten die Kinder in der Kiesgrube verbracht, in der Schule seien sie ausgelacht worden, hätten Prügel bekommen. Er selbst sei nach der Trennung der Eltern beim Vater geblieben, habe die Schule geschmissen und als Fensterputzer gearbeitet, sagt Flügler rückblickend.
Seit vielen Jahren Aktivist
Doch dann machte er sich mit seinem Sohn zusammen selbstständig – „obwohl man glaubt, dass man das nicht hinkriegt“, erinnert er sich. So entstand sein Reinigungsunternehmen.
Dieser Hintergrund ist wichtig, wenn man betrachtet, dass Flügler zuletzt in Schloss Bellevue zu Gast war. Denn der Singener ist auch seit vielen Jahren Aktivist für die jenische Sache, hat dafür verschiedene Vereine gegründet, war Vorsitzender und ist dort weiterhin Mitglied. Und diese Tätigkeit hat ihn zum Neujahrsempfang von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gebracht. Flügler selbst schätzt das so ein: „Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Steinmeier einen Jenischen einlädt.“
Auch den Bundespräsidenten nimmt Flügler in die Pflicht
Auch das Staatsoberhaupt habe er für die Jenischen in die Pflicht genommen. Die Begegnung beim Neujahrsempfang schildert Flügler so: „Ich habe zu ihm gesagt: Ich lege die Zukunft der jenischen Kinder in Ihre Hände.“ Steinmeiers Ehefrau, Elke Büdenbender, habe er gebeten, darauf zu achten, dass ihr Mann sich auch wirklich kümmert. Und wenn man Flügler erzählen hört, ist ihm das ohne Weiteres zuzutrauen.
Denn die Vorgeschichte der Einladung begann im Juni in Rottweil. Bei der Aktion „Ortszeit Deutschland“ hatte der Bundespräsident seinen Amtssitz an verschiedene Orte der Republik verlegt – im Juni eben nach Rottweil. Dort habe er Steinmeier auf der Straße angesprochen und gefragt, warum er die Jenischen nicht leiden könne, erzählt Flügler nun: „Das scheint ihn beeindruckt zu haben.“ Es folgte die Einladung nach Berlin.

Und wie ist er so, der Bundespräsident? Er habe ihn als sehr freundlichen Mann erlebt, sagt Flügler. Die offizielle Begegnung samt Fototermin habe einige Minuten gedauert, in denen er Steinmeier und Büdenbender auch sein Anliegen und seine Wünsche erklärt habe. Auch rund um den offiziellen Termin hätten sich die Mitarbeiter des Bundespräsidenten um die Geehrten gekümmert und über ihre Anliegen gesprochen.
Und am Rande des Empfangs habe es Gelegenheit zu Gesprächen mit anderen Bundespolitikern gegeben. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz habe er dabei von der Sache der Jenischen erzählt, sagt Flügler, und zeigt ein Handy-Foto von ihnen beiden. Da er schon sehr lange die Gruppe der Jenischen vertritt, sei er auch bei manch einem Politiker, der in Bellevue zu Gast war, bekannt gewesen, erzählt Flügler mit einem leichten Schmunzeln: „Das ist schon auch aufgefallen.“
Wofür Flügler arbeitet
Flügler sieht sich dabei als Botschafter für die Gruppe der Jenischen, aber auch für die Stadt Singen. Denn sein großes Anliegen ist die Einrichtung eines baden-württembergischen Zentrums für Jenische in Singen. Die Stadt sei eine Hochburg der Gruppe, deren Namen die Jenischen auch nach außen getragen hätten. Da gehöre ein solches Zentrum genau in diese Stadt. Dieses Zentrum soll eine Heimat für Angehörige der Gruppe sein, ein Ort, wo die Menschen ihre Sorgen loswerden können – und ein überregionaler Anziehungspunkt.
Einen ähnlichen Vorstoß, bei dem sogar ein Neubau geplant war, gab es schon vor einigen Jahren. Damals ist das Projekt gescheitert, nun sagt Flügler. Er würde für ein solches Zentrum auch sein Haus in der Singener Südstadt hergeben. Das Gebäude ist jedenfalls groß und ein großer Garten gehört auch dazu. Nur ein paar Bauarbeiten bräuchte es. Dafür möchte Flügler das Bundesland in die Pflicht nehmen, denn 80 Jahre lang hätten sich allein die Kommunen um die Jenischen gekümmert. Man habe jetzt alles in Bewegung gesetzt, was man bewegen kann.
Anerkennung als nationale Minderheit
Außerdem will Flügler mit verschiedenen Vereinen und auf verschiedenen Ebenen die Anerkennung der Jenischen als nationale Minderheit erreichen – das zuständige Gremium des Europarats hat sich bereits dafür ausgesprochen und den Beginn von Gesprächen empfohlen. Und auf der Wunschliste steht ein Staatsvertrag, wie ihn das Land Baden-Württemberg auch mit dem baden-württembergischen Landesverband im Verband deutscher Sinti und Roma abgeschlossen hat. Der schreibt auf seiner Internetseite, dass damit die „Beziehung des Landes zur nationalen Minderheit der deutschen Sinti und Roma in Baden-Württemberg auf eine feste rechtliche und finanzielle Grundlage gestellt“ worden seien.
Wenn es mit einem jenischen Zentrum klappen würde, würde er Steinmeier auf jeden Fall zur Eröffnung einladen, kündigt Flügler an. Und wer weiß, vielleicht würde der dann ja nach Singen kommen.