Zu dritt sitzen sie nebeneinander auf einem Sofa und halten sich gegenseitig fest: Olena Reichel aus Donaueschingen und ihre Cousinen Yulija Poluieva und Alevtina Heta, die vor wenigen Tagen aus der ukrainischen Stadt Dnipro geflohen sind und in Bad Dürrheim Unterkunft gefunden haben. Dem SÜDKURIER haben sie ihre Flucht-Geschichte erzählt.

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Yulija Poluieva ist 35 Jahre alt, sie hat zwei Kinder – Olga (18) und Mykola (9) – und lebte bis vor wenigen Tagen in Dnipro, wo sie in einem Reisebüro und als Kosmetikerin arbeitete, mit ihrem Mann. Dnipro ist in der Ukraine ziemlich zentral gelegen, hat etwa eine Million Einwohner und ist nach Kiew, Charkiw und Odessa die viertgrößte Stadt des Landes. Lange war Dnipro von den russischen Angriffen verschont geblieben, seit wenigen Tagen wird aber auch die Stadt am Fluss Dnepr beschossen.

Flucht als die Raketen kamen

„Eigentlich wollten wir bleiben. Als wir aber die ersten Raketen sahen, die an unserer Stadt vorbeiflogen, beschlossen wir zu fliehen“, erzählt Poluieva. Das war noch vor den gezielten Angriffen auf die Stadt. Sie schnappte ihre beiden Kinder, jeweils einen kleinen Rucksack pro Person und machte sich auf den Weg in Richtung Lwiw.

„Bis dorthin hatte ich eine Nacht geschlafen. Das war ein einer etwa 100 Quadratmeter großen Halle auf Stühlen. Andere lagen auf dem Boden auf Holzplatten. Wir haben uns mit unseren Jacken zugedeckt. Ein Klo gab es nicht. Wir haben aber Tee, Kaffee und Kleinigkeiten zu essen bekommen“, erzählt Poluieva weiter.

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Die nächste Nacht verbrachten sie und ihre Kinder im Auto, ehe es in eine weitere Halle ging. Ein Fahrer brachte die Familie letztlich zur ukrainisch-polnischen Grenze. „Ich habe mit einem Mann, der vor Ort war, telefoniert und ihn gebeten, meine Cousinen nach Warschau zu fahren“, sagt Olena Reichel.

Nach 20 Stunden des Wartens in der polnischen Hauptstadt ging es weiter nach Berlin. „Dort war ein Mitarbeiter der Bahn, der uns anbot, dass wir bei ihm übernachten könnten. Ich wollte einfach nur weinen, weil ich so ergriffen war, wie nett alle zu uns sind“, sagt Yulija Poluieva.

Ankunft in Bad Dürrheim

Am nächsten Tag konnte die kleine Familie von Berlin nach Stuttgart fahren, wo Olena Reichels Mann sie abholte und in den Schwarzwald-Baar-Kreis brachte. Aktuell wohnen sie in Bad Dürrheim.

Genau so wie Alevtina Heta und ihre Kinder Artem (2) und Oleg (9). Sie kamen am 5. März, drei Tage nach Yulija Poluievas Familie in den Schwarzwald. Auch Heta kommt aus Dnipro: „Bevor wir geflohen sind, lebten wir vier Tage in unserem Keller aus Angst vor dem Bomben.“ Hetas Mann hat Cousins, die in Polen leben. Dorthin wollten sie zuerst flüchten.

Tagelang saßen Alevtina und ihre Familie im eigenen Keller mit Angst vor russischen Angriffen.
Tagelang saßen Alevtina und ihre Familie im eigenen Keller mit Angst vor russischen Angriffen. | Bild: Familie Poluieva

Einfach aber war das nicht: „Der Wer in der Ukraine bis an die Grenze war schrecklich“, sagt Alevtina Heta. Mit dem Zug reiste die Familie nach Lwiw: „Wir mussten sehr langsam fahren. In der Nacht durfte kein Licht an sein, auch kein Handy. Wir hatten Angst, dass uns die Russen sehen und abschießen.“ Von Lwiw ging es mit einem anderen Zug in Richtung der polnischen Stadt Przemysl.

Wenig Platz gab es auf der Reise. Im Vordergrund sind man Alevtinas Kinder.
Wenig Platz gab es auf der Reise. Im Vordergrund sind man Alevtinas Kinder. | Bild: Familie Poluieva

„Kurz vor der Grenze hielt der Zug aber plötzlich an. Er stand fast einen ganzen Tag. Um uns herum war nur ein weites Feld. Es gab keine Läden, in denen wir Essen oder anderes hätten kaufen können. Im Zug waren viele Menschen. Alte, Kinder, Tiere, sie alle lagen oder saßen eng nebeneinander“, fährt Heta fort. Irgendwann aber ging es weiter über die polnische Grenze – und in Sicherheit.

Bilder der Flucht von Alevtina und ihren Kindern.
Bilder der Flucht von Alevtina und ihren Kindern. | Bild: Familie Poluieva

Über die Gruppierung „Ukrainer im Schwarzwald“, die seit Beginn des Krieges unter anderem Hilfsgüter sammelt und diese an die Grenze bringt, nahm Cousine Olena Reichel aus Donaueschingen Kontakt zu einem Freiwilligen aus Villingen auf. Und der brachte die Familie schließlich mit dem Transporter bis nach Donaueschingen und dann nach Bad Dürrheim.

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Das Haus, in dem die Sechs leben, gehört Kinga Herrgen aus Donaueschingen: „Ich besitze das leerstehende Haus in Bad Dürrheim und wollte helfen. Ich habe dann kurzerhand bei der Caritas angerufen und meine Hilfe angeboten. 15 Minuten später erhielt ich einen Rückruf mit der Info, dass die Familien eine Unterkunft bräuchten.“ Kinga Herrgen besitzt, wie sie erzählt, auch eine Wohnung in Krakau. Dort wohnt schon seit längerem ein Ukrainer. Mit Herrgens Erlaubnis hat er Verwandte zu sich geholt, die nun auch da leben.

Jeden Tag Kontakt in die Heimat

Das tun bis auf Weiteres auch Yulija Poluieva, Alevtina Heta und die vier Kinder. Sie sagen, dass sie sich jetzt etwas besser fühlen. Die Sorge um ihre Familie in der Ukraine ist aber groß. Die Ehemänner der Frauen sind in der Heimat: „Noch geht es ihnen gut. Gott sei Dank. Die Lebensmittel werden aber knapp. Wir haben jeden Tag Kontakt über WhatsApp. Das Internet funktioniert auch noch“, sagt Poluieva. Die Männer reparieren beispielsweise Züge oder bauen Öfen, sodass weiter Essen zubereitet werden kann. Und sie stellen auch Stahlsterne für die Straßenblockade her.

Die Männer von Yulija und Alevtina bauen unter anderem Öfen und Straßensperren.
Die Männer von Yulija und Alevtina bauen unter anderem Öfen und Straßensperren. | Bild: Familie Poluieva

Auch Olena Reichel, die in Villingen ein Fotostudio betreibt, sorgt sich: „Meine Mutter ist in Dnipro. Sie versucht gemeinsam mit anderen den Soldaten zu helfen. Zum Beispiel, indem sie Tarnnetze aus alten T-Shirts herstellt. Wenn ich schreibe und nicht sofort zwei blaue Haken bei WhatsApp angezeigt werden, werde ich nervös.“ Die blauen Haken zeigen an, dass der Gegenüber die Nachricht gelesen hat. Warum aber flüchtet die Mutter nicht auch? Reichel: „Es ist unser Land, wir müssen es verteidigen.“

Die Kinder haben die Flucht und erleben die Zeit unterschiedlich: „Olga ist 18, sie hat viel geweint. Die Kleinen verstehen die Situation noch nicht so wirklich“, sagt Poluieva. Zurzeit sind alle versorgt, auch Kleidung haben sie erhalten. Und weil Cousine Olena Reichel nicht ständig dabei sein und übersetzen kann, erhalten die Frauen dreimal pro Woche Deutschunterricht per Zoom, der von Freiwilligen organisiert wurde. „Die ukrainische Schule versucht sogar aus dem Kriegsgebiet Online-Unterricht für die Kinder, die fliehen mussten, zu machen“, sagt Alevtina Heta.

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Die Frauen aus der Ukraine sind dankbar für die Hilfe und Anteilnahme, die sie in der ganzen Welt erfahren. Umso schlimmer ist für sie, dass zum Teil die die eigene Verwandtschaft außerhalb der Ukraine Putins Propaganda glaubt. Poluieva: „Ich habe eine Tante in Kasachstan. Sie glaubt, dass bei uns Faschisten leben und die Russen uns befreien.“ Den Kontakt mit dieser Tante hat sie abgebrochen.

Familie bleibt optimistisch

Trotz des Leids, das die Ukrainer aktuell erleiden müssen, bleiben Alevtina Heta, Yulija Poluieva und ihre Cousine aus Bad Dürrheim optimistisch. „Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir unser Land noch schöner und moderner aufbauen, als es zuvor war. Wir werden neue Arbeitsplätze schaffen. Wir wissen: Es wird alles gut“, sagt Olena Reichel.