Er ist gefährlich, das steht für Richter Karlheinz Münzer am Ende der Verhandlung fest. Der 19-Jährige Angeklagte hatte einen Mitbewohner mit drei Messerstichen lebensgefährlich verletzt. Ins Gefängnis muss er aber trotzdem nicht.
Zu dem beinahe tödlichen Angriff kam es im Mai 2024 in einer Flüchtlingsunterkunft in Trossingen. Das Gericht folgte jetzt in seiner Entscheidung dazu am Donnerstag, 5. Dezember, dem Gutachter Ralf Kozian. Der hatte bei drei Untersuchungen festgestellt, dass der junge Mann an paranoider Schizophrenie leidet.
Der junge Mann habe im Wahn gehandelt, dass sein Opfer ihn vergewaltigt habe, stellte Richter Karlheinz Münzer in seiner Urteilsbegründung klar. Die Tat habe zwar nie stattgefunden. Man könne sich das Opfer der Messerattacke, einen schmächtigen, körperbehinderten Mann, auch schwer als Vergewaltiger vorstellen.
Schwierige Lebensumstände
Den 19-Jährigen beschäftigte der eingebildete Vorfall dennoch Tag und Nacht. In einer Situation, die Münzer ausführlich beschrieb: keine Bezugsperson in Deutschland, keine Schulausbildung, keine Deutschkenntnisse. Er habe sich auch nicht darum bemüht, einen Sprachkurs zu machen oder eine Arbeit zu finden.
Stattdessen verbrachte er wie seine zwei Zimmergenossen, darunter das spätere Opfer, oft den ganzen Tag im Bett. Bilder des Zimmers zeigten die Ermittler, ein wenig aufgeräumter Anblick. Auch Bilder des Waschraums, in dem der 19-Jährige sein Opfer angriff, als der sich die Hände wusch und völlig überrascht wurde.
Zu hören war zudem die Aufnahme des Notrufs, bei dem der Anrufer nicht wusste, wie die Adresse der Unterkunft lautete, weswegen es einige Zeit dauerte, bis der Rettungswagen kam und den schwer verletzten Mann ins Schwarzwald-Baar-Klinikum brachte.
So gefährlich sind die Verletzungen
Rechtsmedizinerin Melanie Hohner beschrieb die Verletzungen. Der erste Stich mit einem kleinen Küchenmesser traf auch die Leber, daran hätte der 36-Jährige verbluten können, denn die Leber „hört nicht von alleine auf zu bluten“, so die Medizinerin. Da helfe nur eine Operation.
Danach wurde der Angegriffene vom Messer am Arm getroffen, als er versuchte sich zu schützen. Als er durch die Tür fliehen wollte, stach der 19-Jährige erneut zu. Er traf sein Opfer „mit erheblicher Wucht“ im Rücken. Glück für den Verletzten: Niere und Milz wurden verfehlt.
Der 36-Jährige leidet heute immer noch unter der Tat. Er habe Schmerzen, könne oft nicht schlafen. Bei seiner Aussage brach der Mann mehrfach in Tränen aus. Er habe gehofft, in Deutschland Hilfe zu finden. Seine Behinderung stammt von einem Unfall, den er als Kind hatte.
Gutachten bringt überraschende Wende
Die Diagnose von Ralf Kozian, dem psychiatrischen Sachverständigen, kam für Prozessbeobachter überraschend. Im Lauf der Verhandlung war von der Krankheit des 19-Jährigen wenig zu hören gewesen.
Doch Kozian hatte beobachtet, was auch den Ermittlern aufgefallen war, die den 19-Jährigen nach der Tat nach Stammheim brachten. Parathymes Lächeln – ein Lächeln, das der Situation völlig unangemessen ist. Und das sei ein absolut eindeutiges Zeichen für Schizophrenie, betonte der Psychiater.
Wahn geht trotz Entzug weiter
Er konnte auch darlegen, dass diese Schizophrenie keineswegs durch Drogenkonsum ausgelöst wurde – der 19-Jährige hatte auch am Tattag Cannabis konsumiert und regelmäßig Tabletten genommen. Die werden eigentlich bei Neuropathie und Epilepsie verschrieben, können aber auch als Rauschmittel missbraucht werden. Der 19-Jährige habe auch in Stammheim, quasi auf Entzug, Wahnvorstellungen gehabt und Stimmen gehört.
Dass der 19-Jährige weiter in der Psychiatrie behandelt werden muss, darin waren sich alle einig, Staatsanwältin, Verteidiger und Gericht.
Rüdiger Mack, der Pflichtverteidiger, stellte es so dar: „Mein Mandant ist überzeugt davon, vergewaltigt geworden zu sein.“ Eine Vorstellung, die für ihn unerträglich sei, weshalb er sich auch selbst verletzt und Suizidversuche unternommen habe.
Vorläufiges Ende: Die geschlossene Psychiatrie
Seine Einstellung habe er klar geäußert: Wenn er als Moslem vergewaltigt werde, müsse er so reagieren. Aufgrund dessen waren sich alle Prozessbeteiligten einig, dass der Angeklagte in der geschlossenen Psychiatrie bleiben müsse. Der 19-Jährige sei gefährlich, solange seine Wahnvorstellungen nicht geheilt seien.
Diese Behandlung, das stellte Richter Karlheinz Münzer auch klar, könne aber auch in seinem Heimatland stattfinden. Vorläufig bleibt er jedoch in der deutschen Psychiatrie, bis die Gerichte anders entscheiden.