Als Markus Seidel 1993 die „Off Road Kids“ gegründet hatte, hätte er nie gedacht, wie weit das Projekt einmal gehen würde. Heute betreibt die Stiftung, die als Verein gegründet worden war, feste Büros in mehreren Städten. Aber auch online beraten die Mitarbeiter junge Menschen, die mit einem Bein auf der Straße leben, deren Bekannte oder einfach Familien, die Hilfe brauchen.
Bis heute hat die Stiftung eigenen Angaben zufolge über 8000 Menschen vor der Obdachlosigkeit bewahrt, allein 2021 wurden außerdem knapp 11.500 Beratungen durchgeführt. Die Zentrale für all das befindet sich in Bad Dürrheim.
Kinderheim geschlossen
Nicht mehr zum Portfolio der Stiftung gehört das 1996 gegründete Kinderheim in Dürrheim. Die betreute Wohngruppe war für Straßenkinder eingerichtet worden, die im Heim leben und nebenbei ihren Schulabschluss machen konnten. Im vergangenen Jahr wurde das Heim allerdings geschlossen.
„Ich hatte schon 2018 auf die Frage, was die Erweiterung des Kinderheims zu Fall bringen könnte, gesagt, dass das dann passiert, wenn wieder eine Situation wie bei der Wirtschaftskrise 2008 aus dem Nichts kommt“, sagt Seidel.
Mit der Corona-Pandemie aber ist eine solche Situation eingetreten: „Eigentlich wollten wir sogar ausbauen. Wirtschaftlich getragen hätte sich das Heim aber erst ab etwa 30 Plätzen. Die zwölf, die wir bis zur Schließung hatten, waren zu wenig“, sagt Seidel weiter. Er verstehe, dass die Spendengeber ihr Geld in der Krise selbst brauchen.
Und so war im Sommer 2021 schließlich das letzte Kind aus dem Heim ausgezogen. Seidel: „Die meisten Kinder konnten wieder zurück in ihre Familien. Manche betreuen wir noch ambulant. Und zwei Mitarbeiter, die zuletzt im Kinderheim gearbeitet hatten, konnten für die Online-Beratung übernommen werden.“
Übrig bleibt nun also ein ehemaliges Kinderheim – für das Seidel und sein Team aber schon einen Nutzen haben: „Im Gebäude sind bereits die Stiftungsverwaltung, auch das Angebot ‚Sofahopper‘ wird von dort verwaltet sowie unsere systemische Therapie- und Beratungspraxis ‚Family Neustart‘ wird auch dort unterkommen“, so der „Off Road Kids“-Gründer.
Sofahopper-Zentrale
Was aber ist „Sofahopper“? „Jugendliche gehen häufig eher in die Großstädte, um sich dort zu verstecken und vom Betteln zu leben. Auf dem Dorf ist das kaum möglich. Durch Social Media hat sich die Vorgehensweise in den letzten Jahren massiv verändert“, erläutert Seidel. Bevor Kinder und Jugendliche aber auf der Straße landen, können sie meistens erst eine Zeitlang bei Freunden und Bekannten übernachten- und das überall in Deutschland.

Seidel: „Irgendwann müssen sie aber gehen, dann landen sie auf der Straße. Sie sind in der Zwischenzeit aber entkoppelt von allen Hilfesystemen. Wir sprechen deshalb auch von verdeckter Obdachlosigkeit. Und bevor das passiert, wollten wir helfen.“
Überregionale Brücke für Jugendliche
Der Kern der Arbeit liege in den Großstädten. Deshalb gebe es Büros in Berlin, Dortmund, Frankfurt, Hamburg und Köln. Die Mitarbeiter der Streetworking-Stationen gehen laut Seidel gezielt auf junge auf der Straße lebende Menschen zu. „Off Road Kids“ seien die einzigen, die eine überregionale Brücke aus den Großstädten in die Heimatorte der Jugendlichen gebaut haben.
„Und die Zentrale für ‚Sofahopper‘ bauen wir in Bad Dürrheim auf“, sagt Seidel. Dort werden dann künftig alle Notrufe zuerst entgegengenommen. Fragen, welches Jugendamt etwa für einen zuständig ist oder was zu tun ist, wenn der Mieter einen rauswerfen will, könnten sofort beantwortet werden. In jedem anderen Fall, beispielsweise bei Gewalt zu Hause, werde ein individueller Weg entwickelt.

Dass es ein solches Angebot braucht, zeigten die Zahlen: „Zwischen März und Juni 2020 haben sich die Hilferufe über ‚Sofahopper‘ vervierfacht, über die gesamte Corona-Zeit verdoppelt. Ich arbeite gerade an den Zahlen für 2021. Auch hier gab es eine Zunahme um 20 Prozent.“
Mehr Berater gesucht
Man habe sich deshalb sehr auf die Beratungen spezialisiert: „Aktuell sind 35 unserer 50 Mitarbeiter in der Beratung tätig. Wenn die Entwicklung so weitergeht, brauchen wir in zwei Jahren doppelt so viele Mitarbeiter wie jetzt. Die Finanzierung ist zwar noch unklar, das bekommen wir aber hoffentlich hin. Das größte Problem ist, geeignetes Personen für den Job zu finden. Der Markt ist leer gefegt“, sagt Seidel. Ziel sei es, irgendwann eine Beratung rund um die Uhr anbieten zu können.
Neben der Stiftungsverwaltung und der „Sofahopper“-Zentrale ist in das Gebäude des ehemaligen Kinderheims auch „Family Neustart“ eingezogen. Geleitet wird die systemische Beratungs- und Therapiepraxis von Simone Neininger. Das Angebot richtet sich an Familien, Paare, Jugendliche, Eltern und Kinder und soll ein oder mehrere Probleme dauerhaft lösen.