Für Derya Türk-Nachbaur hat bereits die zweite Legislaturperiode im Bundestag begonnen. Die Bad Dürrheimerin kann also gut vergleichen zwischen Ampel- und schwarz-roter Koalition. Im Sommerinterview mit dem SÜDKURIER schildert sie, wie die Politik zwischen Schwarzwald, Baar und Berlin gerade tickt.

Wie gut funktioniert Schwarz-Rot?

Die Koalition mit CDU/CSU zeigt für Türk-Nachbaur Licht und Schatten. „Der Wille, dass diese Koalition gelingt, ist auf beiden Seiten da“, betont sie, und vieles sei schon auf den Weg gebracht worden.

Was schätzt sie an Bundeskanzler Friedrich Merz? „Momentan finde ich es gut, dass er das Kabinett und die Bundesregierung zusammenhalten will und klarere Worte zu außenpolitischen Konflikten findet“ – dies bezogen aktuell auf Israel und Gaza.

Was läuft schlecht bei Schwarz-Rot?

Türk-Nachbaur sagt: „Dumm ist – da sehe ich so ein bisschen eine Wiederholung der Ampel -, wenn Erfolge plötzlich nicht mehr im Vordergrund stehen, sondern ein einzelner Streitpunkt debattiert wird – das hilft niemandem und vor allem nicht der Demokratie.“

Etwa bei der jüngst gescheiterten Wahl der neuen Bundesverfassungsrichter. Schließlich sei die Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf im Richterwahlausschuss und auch von der Bundesregierung klar unterstützt worden. Dass dann eine Mehrheit in der Unionsfraktion fehlte, das müsse nun Unionsfraktionschef Jens Spahn lösen.

Wie kommt sie mit CDU-Kollege Thorsten Frei klar?

„Ich schätze Thorsten Frei als Kollegen sehr“, sagt Türk-Nachbaur über den Bundestagsabgeordneten aus Donaueschingen. Es gebe zwar im politischen Alltag relativ wenig Überschneidungen. „Aber wenn wir im Wahlkreis aufeinandertreffen, ist das jederzeit von Respekt geprägt.“

Hat sie Freis Handynummer? „Nein, aber ich habe die Handynummern von vielen Pendants in der Unionsfraktion, der Draht ist kurz. Und ich weiß, wenn ich bei Thorsten Frei im Büro anrufe, dann bekomme ich seine Handynummer und er auch meine.“

Derya Türk-Nachbaur in Berlin, im Hintergrund das Bundestagsgebäude (Archivbild 2024).
Derya Türk-Nachbaur in Berlin, im Hintergrund das Bundestagsgebäude (Archivbild 2024). | Bild: Fionn Große

Wie oft hadert die SPD mit der neuen Koalition?

„Wir haben auch die eine oder andere Entscheidung treffen müssen, die nicht allen gefallen hat“, räumt Türk-Nachbaur ein, „aber das gibt halt der Koalitionsvertrag her“. Sie betont: „Man hält sich an Absprachen, nur so funktioniert Demokratie“.

Auch wenn es beispielsweise um ein Thema gehe, das den Sozialdemokraten „enorm weh getan“ habe, der Stopp des Familiennachzugs für Geflüchtete mit eingeschränktem Schutzstatus für zwei Jahre. „Wir wissen, dass die Migrationswende nicht damit eingeleitet wird, dass man 12.000 Menschen pro Jahr weniger nach Deutschland hinein lässt, wenn man Familien auseinanderhält“, sagt Türk-Nachbaur.

„Das war eine Entscheidung, die uns sehr gefordert hat, und wir haben es trotzdem geschafft, unserem Koalitionspartner Verlässlichkeit entgegenzubringen.“

Muss die Bundeswehr aufgerüstet werden?

„Wir alle wollen Frieden. Der Weg dorthin, der unterscheidet vielleicht den ein oder anderen in der Partei, und das ist auch legitim“, sagt Türk-Nachbaur. „Ich gehöre zu denen, die die Unterstützung der Ukraine als unheimlich wichtig ansehen, schon von Tag eins an. Ich bin eine Verfechterin des internationalen Rechts, dass die Stärke des Rechts gelten muss und nicht das Recht des Stärkeren.“

Über die Höhe der Investitionen lasse sich sicher streiten. „Aber momentan ist es erst mal weniger ein Aufrüsten als vielmehr ein Ausrüsten.“ Die Bundeswehr müsse vielfach überhaupt erst wieder handlungsfähig gemacht werden.

Soll die Wehrpflicht wieder eingeführt werden?

Vor einer Entscheidung über das Thema Wehrpflicht müssten erst viele Fragen geklärt werden, so Türk-Nachbaur. Sie unterstütze Verteidigungsminister Boris Pistorius, zunächst grundlegende Daten zu erfassen. „Ein verpflichtender Fragebogen für die Männer und ein freiwilliger Fragebogen für die Frauen, über den man angibt, ob man grundsätzlich bereit für den Wehrdienst wäre. Und und und.“

Wenn man die Bundeswehr möglichst attraktiv und modern mache, dann werde es sehr viele Freiwillige geben. Wie sieht sie eine Wehrpflicht für alle – also auch für Frauen? Ein klares Ja oder Nein gibt es hier von ihr nicht. „Ich bin im Team Freiwilligkeit und ich hoffe, dass es genug Frauen und Männer gibt, die diesen Dienst machen wollen, der ja ein sehr wichtiger und respektabler Dienst ist.“

Mehr Geld verfügbar – wird nun alles besser?

Vor der Wahl war die Union klar gegen ein Aufweichen der Schuldenbremse, danach war Friedrich Merz plötzlich doch dafür. Nun hat Schwarz-Rot viele Milliarden Euro auf Pump für Investitionen, Bundeswehr und – dank der Grünen – für Klimaschutz zur Verfügung.

Wird nun alles besser? „Ich finde es sehr gut, dass auch die Union verstanden hat, dass wir in unser Land investieren müssen“, sagt Dery Türk-Nachbaur. „Das sind Hebel, um die Wirtschaft in Lauf zu bringen.“

Wie aufgeheizt ist die Stimmung im Bundestag?

„Diese fast verdoppelte AfD-Fraktion ist wirklich sehr laut, sehr pöbelig, zum Teil rassistisch und sexistisch unterwegs. Viele ihrer Kommentare hört man auch nicht unbedingt im Fernsehen, aber wenn man im Plenum sitzt oder am Rednerpult steht, dann ist das schon unterirdisch“, berichtet Türk-Nachbaur.

Sie finde es gut, wenn Bundestagspräsidentin Julia Klöckner Provokationen streng unterbinde. „Aber muss man sich auch bei jeder Anstecknadel einmischen, die Bundestagsgeordnete am Rednerpult tragen?“

Auch Klöckners Verbot, zum Berliner CSD Regenbogenfahnen am Reichstag zu hissen, sieht Türk-Nachbaur kritisch. Am Bundesratsgebäude sei das anders gewesen, auch bei Bundesministerien. „Wir müssen für ein Miteinander stehen. Wenn die Regenbogenfahne weht, wird keinem Heterosexuellen irgend etwas weggenommen.“

Wie wird die politische Mitte wieder stärker?

„Wenn Menschen das Gefühl haben, sie sind abgehängt, neigen sie eher dazu radikal oder extrem zu wählen“, so Derya Türk-Nachbaur. „Ich bin deshalb froh, dass wir zum Beispiel gegen die Wohnungsnot jetzt auf schnellere Planungsverfahren, serielles und günstigeres Bauen setzen“, sagt die Abgeordnete. „Ich glaube, wir kriegen mehr Menschen wieder in die Mitte der Gesellschaft zurück, wenn sie merken, dass ihr Alltag besser wird. Wenn es bezahlbaren Wohnraum gibt, wenn es Kitaplätze gibt, wenn es eine gute ärztliche Versorgung gibt.“

Was tun gegen die Entfremdung von Normalbürgern und Politik?

„Ich unterstelle jedem Bundestagskollegen – abgesehen von der AfD -, dass er das Beste fürs Land will“, betont sie. „Ich bin ja auch, wenn ich im Wahlkreis bin, tagtäglich unterwegs, bei Unternehmen, Verbänden, Vereinen, im Gespräch mit Bürgern. Thorsten Frei ist das ebenso ein Anliegen, und bei den Landtagsabgeordneten der demokratischen Mitte ist es genauso. Da kann ich schwer nachvollziehen, wenn manche sagen, Ihr hört uns nicht zu.“

Bitter für sie: „Bei der Bundestagswahl trotzdem weniger Stimmen zu bekommen als jemand, der einer Partei angehört, die zum Teil als gesichert rechtsextrem eingestuft wird, das lässt mich ratlos zurück.“

Es sei ein Irrtum zu glauben, dass man als Normalsterblicher machtlos sei. „Nein, jeder Einzelne kann etwas tun. Und jeder Einzelne ist wichtig in dieser Gesellschaft.“